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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Verschwendung der Volkswehr und die tragische Unzulänglichkeit der Evakuierungs- und Rationierungsprogramme. Zahlreiche unzensierte persönliche Darstellungen erschienen in Zeitungen und Zeitschriften. Ihre ungeschminkte Wiedergabe der Tatsachen und ihr häufig bitterer Tonfall entlarvten den breschnewschen Mythos von der allgemeinen Stabilität und Opferbereitschaft. Adamowitsch und Granin konnten ihr Blockadebuch durch prägnantere Tagebuchauszüge (zum Beispiel die Juri Rjabinkins, des von seiner Mutter zurückgelassenen Teenagers) sowie durch Material über Kannibalismus und die »Leningrader Affäre« ergänzen. Mehrere enthüllende Dokumentensammlungen gelangten an die Öffentlichkeit, später dann erstaunlicherweise sogar auch aus den Archiven des Föderalen Sicherheitsdienstes, der NKWD-Nachfolgeorganisation. Schdanows Ruf – bis dahin der eines weisen und beliebten Kriegsführers – erlitt schweren Schaden, und sein Name wurde von Schulen, Fabriken, einem Schlachtschiff und aus dem Namen des Schwarzmeerhafens Mariupol entfernt. Die bedeutendste Umbenennung war die von Leningrad selbst, das am 1. Oktober 1991, nach einer hart umkämpften Volksabstimmung, wieder zu St. Petersburg wurde. 4
    Immer noch wichtige Hüter der Belagerungsgeschichte sind die an Zahl geringer werdenden blokadniki . Für sie ist die Belagerung kein historisches Ereignis, sondern eine gelebte, immer noch nachwirkende Erfahrung, und ihre Erinnerungen daran sind, wie Olga Gretschina es ausdrückt, »ein Minenfeld des Geistes. Man tritt auf sie und explodiert sofort. Alles geht zum Teufel – Ruhe, Komfort, heutiges Glück.« 5 Überall lauern Auslöser der Erinnerung: irgendein Wasserhahn oder Feuerhydrant auf der Straße, das Dröhnen eines Flugzeugs oder das Quietschen von Schlittenkufen, der Geruch von Tischlerleim oder auch nur der Anblick von unberührtem Schnee auf einem Gehsteig. Ein Mann stellt nie mehr Weihnachtsbäume auf, weil sie ihm den Baum ins Gedächtnis rufen, unter dem sein Vater vor Hunger sterbend lag; andere gehen stets bestimmten Straßen und Brücken aus dem Weg. An einem Tag im Jahr 1978 war für Gretschina der Geruch eines Lagerfeuers ausschlaggebend, der in ihr Fenster wehte. Nachdem sie Schülern jahrelang die amtliche Belagerungsversion vorgetragen hatte, setzte sie sich an ihren Schreibtisch, weinte und brachte ihre Erinnerung zwei Tage und Nächte lang zu Papier, womit sie einen Strom lange aufgestauter Trauer und Wut freisetzte. Auch die Verhaltensweisen der Belagerung haben sich verfestigt: Die meisten blokadniki können keinen Bissen auf dem Teller zurücklassen, nicht einmal das trockenste Stück Brot wegwerfen oder den Wunsch unterdrücken, eine auf dem Boden liegende Latte mitzunehmen, um sie zu Hause in eine nicht existierende burschuika zu stecken. Auch das Schuldbewusstsein der Überlebenden, das allerdings nie so bezeichnet wird, ist ein alltäglicher Begleiter und äußert sich in vielen Fällen als Kummer darüber, dass man einen Verwandten nicht ordnungsgemäß bestattet hat. Eine Frau, die nicht weiß, wo ihr Vater begraben ist, besucht Piskarjowskoje jedes Jahr an seinem Geburtstag und legt Blumen auf jedes Einzelgrab, auf dessen Stein der gleiche Vorname oder das gleiche Geburtsdatum steht. Allerdings hat sie nie genug Blumen bei sich. 6
    Viele Überlebende haben die Belagerung völlig verdrängt und sprechen nicht einmal mit engen Freunden oder Familienangehörigen darüber. Andere haben – wie früher Gretschina – die erträgliche breschnewsche Version übernommen und ihre eigenen überaus schmerzlichen Erinnerungen in eine größere, sicherere Darstellung eingebettet. Aber auch für diejenigen, die offen reden wollten, konnte es schwierig sein, sich Gehör zu verschaffen. »Im Innern«, schrieb Marina Jeruchmanowa,
    stellte sich immer die Frage: Kann ich einfach darüber sprechen, wie es war? Manchmal überlege ich, warum wir stumm blieben. Wahrscheinlich weil es sich aus irgendeinem Grund nicht gehörte, darauf einzugehen … Jedes Mal, wenn die Unterhaltung das Thema der Blockade berührte, schienen alle bereits Bescheid zu wissen – sie hatten darüber gelesen, davon gehört, die Filme gesehen –, und eine Wiederholung der Einzelheiten würde weder den Erzähler zufriedenstellen noch dem Zuhörer Verständnis verschaffen.
    Auch wir schauten uns die Filme an und lasen das, was über jene Zeit geschrieben wurde. Doch obwohl sich uns der Magen umdrehte, wurden die Gefühle jener Tage

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