Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
durch nichts davon geweckt. 7
Blokadniki beschweren sich häufig darüber, dass niemand mehr an der Belagerung interessiert sei. »Jede Generation hat ihre eigenen Kriege – Afghanistan, Tschetschenien«, meint eine von ihnen. Eine andere schildert einen Vortrag über die Belagerung vor jugendlichen Straftätern, die erst eine Reaktion erkennen ließen, als sie ihnen zeigte, dass sie durch Skorbut nur noch sechs Zähne besaß. 8 Gretschina betont die Spannung zwischen Überlebenden der Belagerung und nach dem Krieg in Leningrad Zugezogenen, die, wie sie behauptet, unhöflich die für blokadniki reservierten Plätze in öffentlichen Verkehrsmitteln mit Beschlag belegen und dies damit rechtfertigen, dass in ihren Dörfern »ebenfalls alle gehungert« hätten. 9
Es stimmt, dass die Belagerung in den neunziger Jahren, als Terror und Gulag die gängigen Themen waren, in den Hintergrund trat, doch dies ist heute nicht mehr der Fall. Im letzten Jahrzehnt wurden zahlreiche Memoiren und Tagebücher veröffentlicht, wenn auch in winzigen Auflagen oder in Hochschulzeitschriften. Damit nicht genug: Allein in der Zeit, welche die Recherchen für dieses Buch in Anspruch genommen haben, sind mehrere wichtige neue Werke erschienen, und weitere werden zweifellos aus verstaubten Akten und aus Koffern hervorgehen, die noch auf den Schränken lagern.
Zudem hat man sich bemüht, in letzter Minute mündliche Aussagen der noch Überlebenden zu sammeln. Obwohl Interviews mit blokadniki häufig mehr über die Strategien aussagen, mit denen der Geist das Unerträgliche erträglich machen will, als über die Belagerung selbst, sind es faszinierende Erlebnisse. Diese Frauen – und es sind meistens Frauen –, die an einem mit sakuski (Vorspeisen) bedeckten Küchentisch, in einem mit Mahagoni getäfelten Hinterzimmer der Öffentlichen Bibliothek oder in einem glänzenden neuen Café sitzen, sind tatsächlich dabei gewesen. Sie waren die vermummten schwarzen und weißen Gestalten, die durch eine verschneite Straße schlurften, sie selbst standen Schlange vor den Brotläden, schleppten Eimer voll Wasser vereiste Stufen hinauf, sahen zu, wie sich ihr eigenes Fleisch verfärbte und dahinschwand, wie ihre Eltern und Geschwister schwächer wurden und starben. Die Ereignisse der Belagerung sind fern und seltsam, doch sie spielten sich vor nicht sehr langer Zeit für die hier sitzende Frau ab, die mich auffordert, eine weitere Scheibe Brot mit Butter und eine frische Tasse Tee zu nehmen.
Blokadniki , die heute interviewt werden, sind seelisch Überlebende: Menschen, die sich mit der Tragödie in dem Maße abgefunden haben, dass sie fähig sind, einer Fremden mit einem Notizbuch davon zu erzählen. Dabei ist es überaus ergreifend, wie sie das Positive betonen – das bisschen Glück, das ihnen widerfuhr, die Selbstverleugnung von Müttern, die Freundlichkeit von Unbekannten. Sie möchten nicht als Helden oder Heldinnen bezeichnet werden, denn sie seien noch Kinder gewesen. Die Helden seien die Erwachsenen, die sie gerettet hätten. Irina Bogdanowa, die vor siebzig Jahren aus ihrer mit Leichen gefüllten Wohnung geborgen wurde, wiederholt dauernd »Ich hatte Glück« und »Ich war gesegnet« – gesegnet, weil sie von gewissenhaften Komsomolzinnen gefunden wurde, gesegnet, weil die unverheirateten Schwestern, ihre neue Familie, sie adoptierten. Nur einmal steigen ihr Tränen in die Augen, nämlich als sie von einer kleinlichen Grausamkeit erzählt: Die neuen Mieter der Wohnung ihrer Familie hätten sich, als sie nach Kriegsende bei ihnen vorsprach, geweigert, sie einzulassen. Das einzige persönliche Besitztum aus ihrer Kindheit sei das Messingkruzifix ihrer Mutter, das die neuen Bewohner in eine Zeitung gewickelt und ihr durch einen Türspalt gereicht hätten.
Dieser Unwille, Urteile zu fällen, diese großartige Entschlossenheit, sich auf seltene menschliche Güte statt auf viel häufigere menschliche Gefühllosigkeit zu konzentrieren, ist etwas anderes als die in der Sowjet-Ära gepflegte Pasteurisierung der Geschichte. Ironischerweise sind es nicht die Überlebenden selbst, sondern ihre Söhne und Töchter – die Generation von sechzig bis siebzig –, welche die herkömmliche sowjetische Version am heftigsten verteidigen. Die blokadniki legen Wert darauf, die Abgeschlossenheit und Gnadenlosigkeit der Blockade, ihren Mangel an jedem erlösenden Element und die Intensität des angerichteten Schadens zu betonen. Recht verlegen auf einem Sofa in
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