Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Gefangenschaft genommen wurden. 32
Doch das tiefer liegende Problem war das des gesamten sowjetischen Oberkommandos: die berechtigte Furcht höherer Offiziere, einen Rückzug anzuraten, bevor er unvermeidlich – und unvermeidlich katastrophal – wurde. Aufschlussreich ist die Geschichte von Wjatscheslaw Kalitejew, dem Kapitän der Kasachstan , des größten Truppentransportschiffs der Flottille. Durch eine Bombe, die die Brücke kurz nach der Abfahrt am ersten Morgen der Evakuierung traf, verlor er das Bewusstsein, stürzte ins Meer und hatte Glück, von einem Begleitboot geborgen zu werden, das ihn nach Kronstadt brachte. Unterdessen schafften es die sieben überlebenden Besatzungsmitglieder, die in Brand stehende Kasachstan mühevoll weiterzusteuern und ihre Passagiere auf einer Sandbank abzusetzen, bevor das Schiff – der einzige noch verbliebene Truppentransporter – in Kronstadt eintraf. Unverzüglich begann eine Ermittlung. Warum habe Kalitejew das Schiff im Stich gelassen? Warum sei er vor ihm zurückgekehrt? Sei er absichtlich über Bord gesprungen? Die Besatzungsmitglieder, die die Kasachstan unter größten Anstrengungen heimgebracht hatten, wurden in einem Sonderkommuniqué der Stawka mit Orden des Roten Banners belohnt, während man Kalitejew wegen »Feigheit« und »Fahnenflucht unter Feuer« durch ein Erschießungskommando hinrichten ließ. 33
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Die Volkswehr
»Und wie kommen Sie darauf, dass ich über den Krieg sprechen möchte?«, tadelte der achtzigjährige Ilja Frenklach, der heute in Israel lebt, seine Interviewerin sechs Jahrzehnte nach Kriegsende.
Sie wollen also die Wahrheit hören, von einem Soldaten, aber wer braucht die heute noch? … Wenn man die ganze Wahrheit über den Krieg sagt, wirklich ehrlich und aufrichtig, brüllen sofort Dutzende von Hurrapatrioten: »Verleumdung! Beleidigung! Lästerung! Gespött! Er wirft mit Schmutz!« … Aber das Gerede von politischen Organisatoren – »robust und heldenhaft, ohne viel Blutvergießen, mit starken Schlägen, unter der Führung kluger und gut vorbereiteter Offiziere …« – na ja, diese scheinheilige Sprache, die arrogante Prahlerei der halbamtlichen Presse verursacht mir immer Übelkeit.
Als Textilarbeiterlehrling bei Kriegsbeginn lernte Frenklach das Kämpfen nicht in der Roten Armee, sondern in der Leningrader narodnoje opoltschenije. Dies ist buchstäblich als »Volksaufgebot« zu übersetzen, doch meistens spricht man von »Volkswehr« oder »Volksfreiwilligen«. Die Volkswehr war zunächst das Ergebnis einer großen Welle des Patriotismus, der die Stadt nach dem deutschen Überfall erfasst hatte, doch sie wurde dann zu einem Mittel, mit dem die Leningrader Führung im Juli und August 1941 rund 70000 Leben vergeudete – und das für einen sehr unbedeutenden militärischen Zweck.
Die opoltschenije war keine sowjetische Erfindung. Reserveheere hatten dazu beigetragen, die Polen im Jahr 1612 und die Franzosen im Jahr 1812 zu besiegen. Und ihre Mitglieder waren, jedenfalls zu Beginn, keine Wehrpflichtigen. »Die meisten von uns«, erinnerte sich Frenklach,
stürmten leidenschaftlich und so schnell wie möglich in den Krieg … Als die Militärmedizinische Akademie Kandidaten für das Medizinstudium auswählte, wollte niemand diese super-elitäre Institution besuchen. Dafür gab es einen Hauptgrund: Es würde bedeuten, dass man die ersten Gefechte mit dem Feind verpasste … In meiner Kompanie war ein Komsorg [Komsomolfunktionär] vom Agrarinstitut. Er hatte Tuberkulose und hustete sogar Blut aus. Man bot ihm einen Posten in der Etappe an, doch er lehnte ab und fiel in einer der ersten Schlachten. 1
Unter den Freiwilligen, die der Bezirkssowjet der Wassiljewski-Insel zurückwies, befanden sich laut Parteidokumenten »Professoren, Richter, Direktoren und einige offensichtliche Invaliden: Sergejew, dem der halbe Magen wegoperiert worden war, Luschik mit nur einem Bein und so weiter«. 2
Der Romanschriftsteller Daniil Alschiz, inzwischen über neunzig Jahre alt und ein großer alter Mann des Petersburger literarischen Establishments, zählte zu den 209 Studenten der Leningrader Historischen Fakultät, die sich meldeten. Eine Waise des Stalinismus – sein Vater war in den dreißiger Jahren in die Verbannung geschickt worden –, glaubte er trotzdem an den Kommunismus. »Sehr wenige Familien«, erklärt er,
hatten nicht unter Stalin gelitten. Und wir Studenten ließen uns ohnehin nie von den fingierten Verfahren [den
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