Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Schauprozessen von 1936/37] überzeugen. Aber Sie müssen verstehen, dass wir keine Feindschaft gegenüber der Sowjetherrschaft verspürten. Wir dachten, Stalin übertreibe die Beseitigung seiner Gegner einfach nur und die Umbildungen an der Spitze würden bald vorbei sein. Jeder begriff, dass Stalin und das Land nicht gleichzusetzen waren.
Weil Alschiz Deutschkenntnisse besaß, wurde er von seinen Freunden getrennt und als Dolmetscher ausgebildet, was ihn erbitterte. »Wir alle wollten zum Kämpfen an die Front fahren! Niemand wollte zurückbleiben!« Nach Lage der Dinge rettete die Verzögerung ihm das Leben, denn als er die Front im Spätseptember erreichte, wurde die Volkswehr bereits aufgelöst und nur dreißig seiner Kommilitonen waren noch am Leben. 3
Was als spontane, aufrichtige Volksbewegung begonnen hatte, wurde rasch offiziell und nahezu obligatorisch. Später beschrieb ein Parteiorganisator in den Kirow-Werken diesen Übergang. Die ersten Personen, die sofort nach Molotows Rede über den deutschen Überfall an ihn herantraten, um sich an die Front schicken zu lassen, waren fünf Rote-Kreuz-Mädchen:
Sie waren die allerersten Mitglieder der Volkswehr (von den fünf wurden, wie ich weiß, drei bei Woronino getötet, und eine ertrank im Orodesch). Danach trafen Bewerbungen in großer Zahl ein. Am Sonntag und Montag erschienen alle paar Stunden Hunderte. Wir akzeptierten die Bewerbungen, schickten niemanden fort. Bis Ende Montag hatte alles solche Ausmaße angenommen, dass wir spezifischer reagieren mussten. Ich ging zum Genossen Werchoglas, einem Mitglied des Städtischen Parteikomitees, und fragte ihn: »Was soll ich mit all den Leuten machen?« Andere Betriebe waren in der gleichen Situation. Das Partkom antwortete nicht gleich, sondern forderte mich nur auf, weiterhin Bewerbungen anzunehmen. Sieben oder acht Tage später befahl man uns, eine Division für die narodnoje opoltschenije zu bilden. 4
Am 27. Juni hatte Schdanow in Moskau um Genehmigung ersucht, eine opoltschenije zusammenzustellen, die einen Teil der Armeereserve ausmachen sollte. Am folgenden Tag billigte Schukow einen Plan, sieben Freiwilligendivisionen zur »Verstärkung« der Nordwestfront zu bilden, und das Vorhaben wurde am 30. Juni offiziell bekanntgegeben. Die Moskauer Stadtregierung schloss sich am 4. Juli mit einem ähnlichen opoltschenije -Vorschlag an – ein Pluspunkt für Schdanow, zumal sein Erzrivale Berija den Plan heftig abgelehnt hatte, da er sämtliche Zivilmilizen, wie die Polizei, unter der Kontrolle seines NKWD wissen wollte. In einer typischen Geste der Übertrumpfung erklärte Schdanow rasch, dass Leningrad nicht weniger Freiwillige stellen werde als die größere Stadt, und setzte ein (nie erreichtes) Ziel von 270000 Mann in fünfzehn Divisionen. 5
Die ersten drei Leningrader opoltschenije -Divisionen mit 31000 Freiwilligen wurden vom 4. bis zum 18. Juli einberufen. Jede gründete sich auf einen Stadtbezirk, was bedeutete, dass Männer aus denselben Fabriken (und häufig aus denselben Familien) gemeinsam in den Einheiten dienen konnten. Die Mitglieder der 1. Division erhielten den Spitznamen kirowzy , nach den Kirow-Werken, deren rund 10000 Bewerber zwei Regimenter und drei Bataillone bildeten; das zweite Regiment der 2. Division bestand aus den skorochodowzy (»Schnellgeher«), nach dem Schuhwerkhersteller Skorochod. Die übrigen Soldaten der 2. Division kamen aus dem Kraftwerk Elektrossila. Insgesamt meldeten sich ungefähr 67000 Fabrikarbeiter, hauptsächlich Facharbeiter, die von der gewöhnlichen Einberufung freigestellt worden waren. 6 Damit wurden nicht nur die besten Leningrader Industriearbeitskräfte abgeschöpft, sondern die Divisionen enthielten auch etliche Ingenieure, Wissenschaftler, Künstler und Studenten. Das Institut für Ingenieurwesen lieferte 900 Mann für die Volkswehr, das Bergbauinstitut 960, das Schiffbauinstitut 450, das Elektrotechnische Institut 1200. Von der Universität Leningrad wurden sieben Bataillone gestellt. Wie nicht überraschen dürfte, setzte sich ein unverhältnismäßig hoher Anteil der ersten Welle von opoltschenzy aus Kommunisten zusammen. Von den 97000 am 6. Juli verpflichteten Männern waren 20000 Parteimitglieder und weitere 18000 Angehörige des kommunistischen Jugendverbands Komsomol. 7
Da es Schdanows überhöhte Sollzahlen zu erfüllen galt, wurde die Rekrutierung nun systematischer angegangen. Bezirkssowjets erhielten auf der Basis der verfügbaren Einwohner
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