Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Nordwestfront müssten nun eine Linie von vierhundert Kilometern abdecken, und sieben von ihnen verfügten kaum noch über schwere Waffen oder Funkgeräte. Weitere fünf Divisionen ziehe er nicht in seine Berechnungen ein, da ihre »verbliebene Kampffähigkeit niedrig« sei – mit anderen Worten: Sie waren vernichtet worden. Erforderlich seien fünfundvierzig bis fünfzig frische Bataillone und neue Waffen für fünf Divisionen. 27
Am Abend des 25. August fiel auch Ljuban, fünfunddreißig Kilometer nördlich von Tschudowo an der Bahnlinie Moskau–Leningrad gelegen, in feindliche Hand. Am folgenden Tag war Stalin am Telefon und verlangte einen Bericht. Woroschilows Stellvertreter, General Popow, antwortete und gab zu, dass Ljuban aufgegeben worden sei. Er ersuchte erneut um Verstärkungen (»da die uns gesandten nicht einmal die Hälfte unserer Verluste wettmachen«), um halbautomatische Waffen für die Infanterie (»wir haben nur Gewehre«) und darum, dass Leningrad seine Produktionsanlagen für Panzerfahrzeuge behalten dürfe, statt sie zu evakuieren. Widerwillig stimmte Stalin zu:
Wir haben bereits drei Produktionstage verloren, also können Sie noch drei oder vier mehr haben … Wir werden Ihnen mehr Infanteriebataillone schicken, aber ich weiß nicht, wie viele … In zwei Wochen können wir vielleicht zwei Divisionen für Sie zusammenkratzen. Wenn Ihre Leute wüssten, wie man nach Plan arbeitet, und uns vor zwei Wochen um zwei oder drei Divisionen gebeten hätten, würden sie nun für Sie bereitstehen. Das Problem ist, dass ihr Leute lieber wie Zigeuner lebt und arbeitet, von einem Tag auf den anderen, ohne in die Zukunft zu blicken. Ich will, dass Sie wieder mehr Ordnung in der 48. Armee schaffen, besonders in den Divisionen, deren feige Offiziere gestern aus Ljuban weiß der Teufel wohin verschwunden sind. Ich will, dass Sie die Gebiete Ljuban und Tschudowo um jeden Preis und mit allen Mitteln von Feinden säubern … Nur ganz kurz, ist Klima [Woroschilow] eine Hilfe oder ein Hindernis?
»Er ist eine Hilfe. Wir sind aufrichtig dankbar«, erwiderte Popow klugerweise. 28
Ebenfalls am 26. August gestattete Stalin schließlich den Rückzug zur See aus der estnischen Hauptstadt Tallinn (Reval), dreihundertzwanzig Kilometer westlich von Leningrad. Diese Operation – eine »Art Dünkirchen, aber ohne Fliegerschutz«, wie Alexander Werth es ausdrückte – war eines der größten (und am wenigsten in Erinnerung gebliebenen) Desaster der Sowjetunion in den ersten Kriegsmonaten. Als verantwortlicher Offizier fungierte General Wladimir Tribuz, Befehlshaber der Baltischen Rotbannerflotte. Da er früh einsah, dass der neu gegründete sowjetische Marinestützpunkt Libau (heute Liepa¯ja) an der lettischen Küste durch deutsche Angriffe verwundbar war, hatte er (mutig) die Erlaubnis erwirkt, seine größten Schiffe bis vor Kriegsbeginn östlich nach Estland zu verlegen. Es war ein Schachzug, der Voraussicht erkennen ließ. Libau fiel nach zwei Kriegstagen, und fünf Tage später hatte sein Flaggschiff, der 7000-Tonnen-Kreuzer Kirow , das Glück, aus Riga nach Tallinn zu entkommen. Zur Verteidigung Tallinns verfügte Tribuz über 14000 Matrosen, rund tausend Polizisten und die übel zugerichteten Reste (ungefähr 4000 Mann) der Grenztruppen, die aus Riga geflohen waren, darunter das 5. Motorisierte Schützenregiment, das nun nur noch »150 Bajonette« zählte. Tribuz kommandierte 25000 estnische Zivilisten zum Ausheben von Schützengräben ab, doch die meisten wollten – wie die Letten – nicht »verteidigt« werden. Nachts ertönten überall Gewehrsalven in der Stadt, anonyme Hände klebten prodeutsche Flugblätter an Mauern und ein russischer Offizier wurde beim Verlassen eines Restaurants ermordet. Das NKWD reagierte mit den üblichen Verhaftungen, Kriegsgerichten und Erschießungskommandos.
Am 8. August – am selben Tag, als Leeb seinen Angriff auf die Luga-Linie begann – erreichte die Wehrmacht die Küste im Osten der Stadt, und Tallinn wurde vom Land her umzingelt. Tribuz schlug zwei gleichermaßen unerfreuliche Methoden zur Überwindung der Falle vor. Entweder könne er seine Kräfte zu einem Durchbruch nach Osten in Richtung des noch unbesetzten Narva an der estnisch-russischen Grenze konzentrieren oder mit ihnen den Finnischen Meerbusen überqueren, um sich durch die finnischen Linien wieder nach Leningrad vorzukämpfen. Stalin lehnte beide Vorschläge ab: Tallinn sei um jeden Preis zu halten.
Die 18.
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