Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
dass seine Einheit eine Kampfdivision war und an die Front geschickt werden sollte. Er geriet in Verzweiflung und gab bekannt, dass seine Frau bei seinem Eintritt in die opoltschenije versucht habe, sich zu erhängen, und erst im letzten Moment gerettet worden sei. Er wurde entlassen … Bei der Artillerie brach der Kommunist Brauman in Tränen aus, weil er Angst hatte, an die Front zu gehen … Komsomolmitglied Peterson wollte die opoltschenije verlassen, doch man machte ihm die Situation klar und schickte ihn zur Arbeit in die Küche. 14
Solche Fälle von Abtrünnigkeit waren jedoch selten. Die meisten, wie (die Juden) Frenklach und Alschiz, wollten kämpfen oder es fiel ihnen leichter, sich einfach der Menge anzuschließen. »Es ist eine ungleiche Wahl«, wie Lidia Ginsburg es ausdrückte, »zwischen einer naheliegenden, einer offensichtlichen oder bekannten Gefahr (etwa der Unzufriedenheit eines Vorgesetzten) und jener anderen, deren Folgen noch weit entfernt liegen, noch nicht feststehen und vor allem nicht zu begreifen sind.« 15
Nachdem die Behörden ihr Volksheer geschaffen hatten, behandelten sie es mit höchstem Argwohn. Da es aus einer echten Basisbewegung und nicht aus einem Parteidiktat hervorgegangen war, legten seine Mitglieder die unwillkommene Tendenz an den Tag, sich selbst zu organisieren sowie Vorschläge und Kritik laut werden zu lassen. Besonders schwer war es, der vielen tausend Freiwilligen aus der Intelligenzija Herr zu werden. Von den 2600 Mann des 3. Schützenregiments der 1. Division (rekrutiert aus dem mit Hochschulinstituten dicht besiedelten Dscherschinski-Bezirk) waren ungefähr 1000, wie die politische Abteilung besorgt anmerkte, »hoch kultivierte Typen – Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Schriftsteller, Ingenieure« –, welche mit gebildeten Offizieren, die sie respektieren konnten, »durchsetzt« werden müssten. Gleichwohl sollten Ersuche, auf dem eigenen Fachgebiet arbeiten zu dürfen – etwa wenn Rundfunktechniker als Signaloffiziere und Bergbauingenieure als Pioniere dienen wollten – als »Ausdruck von Feigheit« behandelt werden, weshalb man das Regiment später von solchen »Meckerern« und »instabilen Elementen« befreite. In den beiden ersten opoltschenije -Divisionen wählten die Freiwilligen zunächst ihre Kompanieführer und »politischen Führer« – die als Politruks bekannten, auf Bataillonsebene tätigen Unterhaltungsoffiziere/Propagandisten/Spitzel – durch informelle Abstimmungen. 16 Das war jedoch eine gefährlich demokratische Praxis, die rasch auf Befehl der Stawka ausgemerzt wurde. Aber auch die besten Bemühungen der politischen Abteilung reichten nicht aus, um die Freiwilligen dazu zu bringen, »sozialistische Wettbewerbe« mit anderen Einheiten zu veranstalten oder sich militärische Formalitäten zu eigen zu machen. »Hier sind zwei Beispiele«, klagte ein Politruk,
aus dem Schdanow- und dem Kirow-Regiment. Er war früher ein gewöhnlicher Arbeiter und ist nun Offizier. In seiner Einheit hat er zwei seiner früheren Vorarbeiter, und natürlich ist es schwierig, die Spitznamen Sascha, Wanja und Petja nicht mehr zu benutzen. Oder man nehme folgenden Vorfall. Ein Kommandeur gibt einen Befehl und sagt: »Wiederholen!« Und sein Untergebener erwidert: »Sascha, warum soll ich das wiederholen? Hältst du mich für dumm?« … Wir müssen unsere Befehlshaber zwingen, strenger zu sein. 17
Hinter der Freiwilligkeit konnte sich auch Verrat verbergen, wie die Parteibosse fürchteten. Zum Beispiel entdeckte man, dass sich dreizehn Volksdeutsche und estnische »Ausländer« gemeldet hatten – genau wie ein ehemaliger Trotzkist, ein früher zu den Weißen gehörender Finne und mehrere spanische und österreichische Kommunisten. Alle wurden aus der opoltschenije entlassen, und man übergab ihre Personalien dem NKWD. 18
Von der praktischen Seite gesehen, mussten die 110000 Freiwilligen, die sich bis zum 7. Juli gemeldet hatten, 19 in Kasernen untergebracht, ausgerüstet und zum Kämpfen ausgebildet werden. Auf diesem Gebiet scheiterten die Behörden kläglich, wie aus dem freimütigen Berichten der Politruks hervorgeht. Die Freiwilligen der 1. (Kirow-)Division wurden am 4. Juli eingezogen und in behelfsmäßige Kasernen in Schulen, einem Krankenhaus, einem Fabrikwohnheim und einem Schlafsaal des Konservatoriums geschickt, wo sie sich mit Plätzen auf dem Fußboden oder mit Etagenbetten ohne Matratzen begnügen mussten. Wie die politische Abteilung
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