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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Ergebnis waren nahezu allgemeine Panik und Konfusion. Freiwillige – unbewaffnet, unausgebildet, erschöpft durch Nachtmärsche und schlaflose Tage, an denen sie sich vor Luftangriffen verbargen – flohen entweder oder gerieten in hoher Zahl in Gefangenschaft. So viele ließen ihre uralten Gewehre zurück, dass eine spezielle Kampagne unter den Parolen »Seine Waffe zu verlieren ist ein Verbrechen am Vaterland« und »Die Macht eines Soldaten ist seine Waffe« in Gang gebracht wurde. Die Massenflucht vor Panzern war so alltäglich, dass sie mit einem pseudomedizinischen Begriff belegt wurde: tankowaja bojasn (»Panzerphobie«). Werchoglas deutete seinen Untergebenen gegenüber sogar an, dass sie das Gerücht ausstreuen sollten, die Deutschen würden Attrappen benutzen:
    Vor einigen Tagen wurde genau ein solcher Vorfall mit einem Feldstecher aufgedeckt. Eine mächtige Panzerkolonne näherte sich. Die Panzer stoppten, ein Offizier lehnte sich an eines der Fahrzeuge, und sein Ellbogen hinterließ eine Beule. Wie Sie wissen, können Ellbogen keine Beulen an richtigen Panzern verursachen. Durch dieses kleine Detail wurde die Wahrheit enthüllt: Die Panzer erwiesen sich als Imitationen. 24
    Ob mit einem solch absurden Versuch, irgendjemand davon zu überzeugen war, praktisch mit bloßen Händen Panzer anzugreifen, wissen wir nicht, aber es ist höchst unwahrscheinlich.
    In der Schlacht wurden Freiwillige auf primitivste Art verheizt. Die russischen Angriffsmethoden, verzeichnete der deutsche Generalstabschef Halder in seinem Tagebuch, beschränkten sich auf dreiminütiges Artilleriesperrfeuer, wonach die Infanterie ohne Unterstützung durch schwere Waffen und unter unglaublich hohen Verlusten vorgeprescht sei. 25 Einer jener Infanteristen war Frenklach. »Du bist so eingeschüchtert, dass deine Beine im Boden verwurzelt sind«, erinnerte er sich. »Es ist außerordentlich mühsam, dich aufzuraffen, dein Gewehr zu packen und loszulaufen. Wenn du einmal in Schwung bist, ist alles in Ordnung – lauf einfach vorwärts. Und es war nicht nur die Furcht, andernfalls in den Hinterkopf geschossen zu werden, die dich dazu brachte, sondern es lag an dem Rausch des Pflichtgefühls.«
    Offiziere, die eine Schlacht überlebten, wurden den üblichen, auf Misstrauen gegründeten Schikanen ausgesetzt. Zum Beispiel befragte Werchoglas einen Politruk namens Michail Serogodski Ende Juli nach einem verhängnisvollen Zusammenstoß bei Kingissepp:
    Serogodski: »Neunhundert von uns erreichten den Bahnhof, und sechshundert überstanden die dortigen Kämpfe.«
    Werchoglas: »Wurden sie getötet, oder machten sie sich davon?«
    Serogodski: »Einige liefen in Richtung Gdow, andere wurden getötet.«
    Werchoglas: »Ich weiß genau, warum einige davonliefen – nämlich, weil Sie den Kopf verloren. Sie haben nicht begriffen, dass Sie führen müssen. Infolge Ihres Versagens rannten sie in animalischer Furcht davon.«
    Die übrigen Männer der Einheit, fuhr Serogodski fort, hätten den Befehl erhalten, »sich als Partisanen zu betrachten«, wonach sie sich in Gruppen geteilt hätten und im Wald verschwunden seien.
    Werchoglas: »Der Grund für Ihre Rückkehr aus der Etappe?«
    Serogodski: »Es wurde sehr schwierig, Essen zu beschaffen. In den letzten drei Tagen bevor wir wieder mit unseren Einheiten zusammentrafen, ernährten wir uns von wilden Pflanzen. Wir gingen durch ein Kieferndickicht und lebten von Waldsauerklee. Extremer Hunger zwang uns, wieder zu unseren Linien aufzuschließen.«
    Werchoglas: »Und Ihre Verluste waren wie hoch?«
    Serogodski: »Schwer zu sagen. In unserer Abteilung sind noch 65 Mann. Es waren nicht nur Todesfälle – zweimal habe ich Männer zur Erkundung ausgeschickt, und sie kamen nicht zurück.« 26
    Zorn und Verzweiflung waren auch in den Bataillonsberichten zu erkennen, deren Sprache von dem üblichen politischen Jargon gereinigt war. Kommissar Mossejenko von der 1. Division erklärte am 21. Juli, warum seine Einheit hatte zurückweichen müssen:
    Das Bataillon verteidigte sich gegen Minenwerferfeuer, konnte es aber nicht erwidern, weil es keine eigenen Minenwerfer hatte. Es gab keine Kommunikation mit dem Regiment, der Artillerie oder den eigenen Kompanien, weshalb die Artillerie ihre eigenen Soldaten in ihren eigenen Schützengräben beschoss. Die 1. Kompanie setzte die 3. Kompanie desselben Bataillons dem Feuer aus. 27
    Ein anderer Offizier der 1. Division klagte über den Mangel an Sanitätsdiensten:
    Nicht nur

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