Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
mit Medikamenten steht es schlecht, sondern wir haben auch gar keine chirurgischen Geräte. Wenn die Verwundeten operiert werden müssen, können wir ihnen nicht helfen. Es gibt keine Ärzte, keine Instrumente, keine Krankenschwestern. Wir haben die Mädchen vom Roten Kreuz – sie sind Heldinnen, gewiss, aber das nützt ihnen auch nicht sehr viel. Es fehlt uns an Sanitätskästen. Wir haben keine Ersatzbestände, nur das, was die Soldaten schon in ihren Rucksäcken mitschleppen, das ist alles. Ein Fläschchen Jod pro Rucksack … Was soll ich über medizinische Transportmittel sagen? Wir sollten über 380 Lastwagen verfügen, und wir haben 170. Es gibt keine ausgebildeten Ärzte.
Es sei kein Wunder, dass Offiziere ihre Situation oft unerträglich fanden:
Ein unangenehmer Vorfall ereignete sich. Der Kommandeur des 1. Kirow-Regiments erschoss sich. Der Grund war anscheinend Feigheit, Angst davor, dass [das Regiment] nicht ausreichend bewaffnet sei. Fünfzehn Minuten vorher soll er eine vortreffliche Rede [vor den Soldaten] gehalten haben, dann sei er hinausgegangen und habe sich erschossen. Man hat den Soldaten seine Handlungen nicht erklärt, sondern ihnen mitgeteilt, er sei von Saboteuren ermordet worden. 28
Ein Oberleutnant erwiderte auf die Frage, weshalb er auf eigene Initiative einen Rückzug angeordnet habe: »Ich weiß nicht, wie man sich als Offizier verhält, und ich wollte nicht, dass eine Menge Menschen meinetwegen getötet werden.« Dann brach er in Tränen aus. 29 Ein Maschinengewehrschütze hinterließ eine knappe Notiz: »Ich habe beschlossen, mir das Leben zu nehmen. Es ist zu schwierig in der Kompanie. Unterschrift: Kompaniehauptfeldwebel Smirnow.«
Am 16. Juli ordnete das Oberkommando die Schaffung von vier weiteren opoltschenije -Divisionen an, die letztlich weitere 41446 Freiwillige umfassten. Die Bewerbungskriterien wurden gelockert, damit man auch die sogenannten Freifahrer, Brillenträger und die Söhne von »Volksfeinden« einziehen konnte. Außerdem erweiterte man die Altersgrenzen von achtzehn auf siebzehn und von fünfzig auf fünfundfünfzig Jahre. Die eindrucksvolle neue Bezeichnung »Gardedivisionen« konnte die Tatsache nicht verbergen, dass sie noch schlechter ausgerüstet waren als ihre Vorgängerinnen. Beispielsweise besaß das 3. Schützenregiment der 1. Gardedivision 791 Gewehre, 10 Scharfschützengewehre und 5 Revolver für 2667 Soldaten. 30 Die Ausbildung war wiederum unsäglich schlecht oder gar nicht existent (»Wir bringen ihnen bei, mit Steinen zu kämpfen«, jammerte ein Ausbilder). Infolge der Verschwendung der vergangenen drei Wochen gab es bereits einen akuten Mangel an erfahrenen Offizieren; von den 781 Offizieren der Ersten Gardedivision zählten nur 82 als »Kader«, waren also Berufssoldaten. Um Offiziere für die 2. Gardedivision zu finden, mussten Kommissare in den unbesetzten Sowjetgebieten Ausschau halten und Männer aus so fernen Gegenden wie dem Ural herbeiholen. 31
Die neuen Divisionen wurden dem gleichen Blutbad ausgeliefert wie ihre Vorgängerinnen. Nachdem die 1. Gardedivision am 11. August an der Front angelangt war, wurden ihre Befehle dreimal geändert, was dazu führte, dass mehrere Regimenter innerhalb von vierundzwanzig Stunden siebzig Kilometer marschieren mussten. Danach traten sie, obwohl es ihnen an Patronen und Granaten mangelte, sofort in Aktion. Man könne nicht mehr Munition aus dem Hinterland heranschaffen, meldete ein hoher Offizier der Politischen Abteilung Schdanow nach einer Fahrt an die Front, weil die Division über keinen Tanklaster verfüge und gezwungen gewesen sei, 390 Pferde wegen des Fehlens von Zaumzeug und Karren zurückzulassen. Auch könnten die Verwundeten nicht vom Schlachtfeld geholt werden, da die Sanitätseinheit nur vier Lastwagen besitze. Die »hohen Tiere«, die das Divisionshauptquartier aufsuchten, seien eher ein Hemmnis als eine Hilfe:
Jeder von ihnen glaubt, es sei seine Pflicht, einen Befehl oder Rat zu erteilen. Ein typisches Beispiel: Der Divisionskommandeur fand erst heraus, dass das 2. Schützenregiment am Abend des 12. August einen Angriff ausführen sollte, nachdem der Befehl bereits unter Leitung eines Generalmajors vom Gruppenhauptquartier vollzogen war. Im Gespräch mit mir erklärten sowohl Generalmajor Schtscherbakow als auch Brigadekommissar Kulotschkin: »Jeder gibt Befehle, aber niemand ist wirklich hilfreich.«
Auf einer langen Liste angeforderter Nachschubmaterialien standen Wasserwagen, eine
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