Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Freiwilligen – verstört, unbewaffnet, führungslos – auf dem Schlachtfeld etwas ausgerichtet hatten, bedeutete ihr Verlust unzweifelhaft eine unglaubliche Verschwendung von fähigen und qualifizierten Kräften, besonders angesichts des baldigen Bedarfs der Roten Armee an Offizieren. (Bis Ende September 1941 hatte die gesamte Rote Armee erstaunliche 142000 ihrer 440000 Offiziere eingebüßt. »Im Grunde liegt die Schuld«, berichtete General Fedjuninski über eine gescheiterte Aktion außerhalb von Leningrad im Oktober, »bei der schwachen Führerschaft durch die Offiziere der Züge und Kompanien, die in einigen Fällen schlichter Feigheit gleichkam.« 37 ) Der Militärhistoriker Antony Beevor äußert sich vernichtend: »Die Vergeudung von Leben war so schrecklich, dass sie schwer zu begreifen ist: Ein Massaker, dessen Sinnlosigkeit vielleicht nur durch den Zulu-König übertroffen wird, der ein Impi [Regiment] seiner Krieger über eine Klippe marschieren lässt, um ihre Disziplin zu beweisen.« Noch kritischer urteilt der opoltschenije -Überlebende Frenklach:
Es gibt Momente, deren ich mich bis heute schäme. Wir gaben wiederholt Fersengeld und ließen unsere Verwundeten im Stich. Alle hatten Angst, während eines Rückzugs verwundet zu werden, denn wer nicht gehen konnte, hatte keine Aussicht, von Krankenträgern gerettet zu werden. Die einzige Chance bestand darin, sich von einem Freund helfen zu lassen. Nach dem Krieg dachte ich lange über 1941 nach und analysierte die damalige Situation. All die Märchen über das Massenheldentum – sie sollten den Schriftstellern und den Politruks auf dem Gewissen liegen. Natürlich gab es einige Helden, aber andererseits hatten wir es auch mit Mengen von Soldaten zu tun, die in Panik gerieten und flohen. Es war ein völlig ungerechtfertigtes, sinnloses Opfer nach dem Belieben unseres idiotischen Oberkommandos. 38
Das letzte Wort sollte Stalin gehören. Um Woroschilow, der eine höhere Position ausgeschlagen hatte, zu erniedrigen, verbreitete er im April 1942 eine Notiz an das Zentralkomitee, in der er die Schwächen des Genossen (betont nicht des Marschalls) Woroschilow aufzählte. Zum Beispiel sei dieser, während er die Nordwestfront befehligte, »durch die Schaffung von Arbeiterbataillonen abgelenkt [worden], die schlecht bewaffnet (mit Schrotflinten, Spießen, Dolchen und so weiter) waren, während er die Artillerieverteidigung der Stadt vernachlässigte«. 39 Woroschilow war ein schlechter Mensch und ein schlechter Soldat, aber die Katastrophe der Leningrader Volkswehr konnte nicht nur ihm angelastet werden. Schließlich hatte er sein Handwerk im Politbüro erlernt, dessen Überlebensfähigkeit sich darauf gründete, die Wünsche Stalins vorauszuahnen.
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»In einer Mausefalle gefangen«
Vera Inber traf am 24. August mit dem Zug in Leningrad ein. Sie war einundfünfzig Jahre alt und, obwohl Trotzkis Cousine, erstaunlicherweise eine prominente Vertreterin des literarischen Establishments. Sie schrieb, ohne in den Schund des voll entwickelten sozialistischen Realismus abzugleiten, Kurzgeschichten, die von der Zensur genehmigt wurden. Ihr Mann war gerade zum Direktor des Leningrader Erisman-Lehrkrankenhauses ernannt worden, einer Anlage aus roten, im neunzehnten Jahrhundert entstandenen Backsteingebäuden gegenüber dem Botanischen Garten an der Petrograder Seite. Inber hatte ihre Tochter und ihren neugeborenen Enkel von Moskau aus in die Evakuierung begleitet und kehrte nun zu ihrem Mann zurück.
Die Reise, die in Friedenszeiten mühelos über Nacht zu bewältigen war, dauerte zweieinhalb Tage. Frische Bombenkrater säumten die Gleise, und lange Fabrikzüge mit massigen Maschinen unter Leinwandbezügen ratterten in die entgegengesetzte Richtung. Wie lange einer der Züge bereits unterwegs war, ließ sich, wie Inber bemerkte, an der Frische der Birkenzweige ablesen, die zur Tarnung an die Waggondächer gebunden waren. Ihr eigener Zug, der sich Leningrad durch baufällige Dörfer mit malerischen Provinznamen näherte, hielt häufig an. »Wir kamen im Morgengrauen zum Stehen«, notierte sie in ihrem Tagebuch,
und wir sind immer noch hier … Der Waggon ist ziemlich leer, und niemand redet viel. In einem Abteil ist ein endloses Kartenspiel in Gange; ein General flötet, wenn er seine Trumpffarbe erklärt; ein Pionier schlägt mit seiner Pfeife an die Tischecke, wieder und wieder. Es ist ein regelmäßiges Geräusch, und es erinnert mich an einen Specht, der an
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