Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Ambulanz und ein mobiles Feldlazarett; außerdem benötigte man zwanzig weitere Offiziere und Politruks von mittlerem Rang, die zurückweichende Freiwillige zusammentrommeln und anspornen sollten. 32
Die 2. Gardedivision wurde am 12. August bei Gattschina an die Front geschickt und zwei Wochen später in Stücke geschlagen. Während der Schlacht, berichtete Regimentskommissar Nabatow, seien mehrere Punkte deutlich geworden:
A. Einige Soldaten wissen nicht, wie man mit Gewehren und Granaten umgeht. Dies trug während der Kämpfe zur Zerstreuung unserer Kräfte bei.
B. Eine Reihe von Soldaten waren schlecht getarnt, da sie Befehle, Gräben für sich auszuheben, nicht befolgt hatten. Auf Grund dessen erlitten wir hohe Verluste durch Artilleriefeuer und Minenwerfer.
C. Bei Gegenangriffen versuchten Soldaten, dicht beieinander zu bleiben, statt in angemessener Formation auszuschwärmen. Das bedeutete weitere Verluste.
D. Soldaten erkennen ihre Nachbarn weder auf der linken noch auf der rechten Seite. Da sie ihre eigenen Kameraden für den Feind halten, meinen sie, eingekesselt zu sein.
E. Mehrere Einheitskommandeure kennen ihre eigenen Soldaten nicht beim Namen.
F. Manche Soldaten ahnen nicht, wie ihr Sanitätskasten zu benutzen ist. Dadurch verbluten einige, die sich relativ geringfügige Wunden zugezogen haben, bevor sie zu einer medizinischen Versorgungsstelle gebracht werden können.
Zwischen den Gemetzeln wartete die durchnässte und hungrige Division Sommerstürme in halb ausgehobenen Schützengräben ab (»Wir plätscherten herum«, meinte Frenklach, »wie Nilpferde im Zoo«). Einheiten flehten um Segeltuch, Zelte, Feldküchen, Unterwäsche, Rasiermesser, Essensgeschirr, Wasserflaschen, Schaufeln, Schanzgerät, Helme und vor allem um Fahrzeuge, Kommunikationsgeräte, Waffen (die 3. Gardedivision hatte nur drei Gewehre für jeweils vier Freiwillige) und Männer, die sie benutzen konnten. »Die Mehrheit der Freiwilligen«, meldete ein Politruk eines Bataillons der 4. Gardedivision, die zur Unterstützung der ausgeweideten 2. Division entsandt worden war,
ist unausgebildet oder nicht gut genug ausgebildet, um zu schießen. In einigen Fällen sind sie nicht imstande, ihre eigenen Gewehre zu laden, und ihre Offiziere müssen dies für sie tun … Von 205 als Maschinengewehrschützen verzeichneten Männern waren nur 100 tatsächlich mit Maschinengewehren vertraut, und die übrigen erwiesen sich als Gewehrschützen. Eine Gruppe von »Pionieren« enthielt weitere Gewehrschützen und gewöhnliche Arbeiter, doch keinen einzigen Sprengstoffexperten … Auch haben sie kein Werkzeug zur Reparatur von Waffen, weshalb der schlichte Bruch des Schlagbolzens eines Maschinengewehrs zur Folge hat, dass die Waffe nicht benutzt werden kann. 33
Die Entscheidung, die Überreste der opoltschenije offiziell abzuwickeln, wurde am 19. September getroffen, und die Überlebenden hatten sich bis zum Monatsende der Roten Armee angeschlossen. Etwa 135400 Personen, darunter eine erhebliche Zahl weiblicher Hilfskräfte, hatten in der Volkswehr gedient. 34 Einer offiziellen Schätzung der Verluste kam Schdanows Stellvertreter Alexej Kusnezow am nächsten, der im folgenden Jahr in Smolny erklärte, dass nicht weniger als 43000 Leningrader Freiwillige in den ersten drei Kriegsmonaten getötet, gefangen genommen worden oder verschollen seien. Dies ist höchstwahrscheinlich zu niedrig gegriffen. Der Anteil an Vermissten in der 1. und 2. Division sowie in der 2. und 4. Gardedivision, die alle vor ihrer offiziellen Abwicklung praktisch ausgelöscht worden waren, war viel höher, und Andeutungen gegenüber westlichen Journalisten bei Kriegsende lassen Verlustraten von bis zu 50 Prozent vermuten. 35
Hatte sich das Opfer gelohnt? Die herkömmliche Interpretation besagt, dass die opoltschenije , obwohl schlecht ausgebildet und ungenügend ausgerüstet, die Luga-Linie ein paar entscheidende Wochen lang gehalten und damit Zeit für die Verstärkung der inneren Verteidigung Leningrads herausgeschlagen hätte. Die Freiwilligen hätten nicht als voll ausgebildete Soldaten gelten können, ließ der Direktor der Kirow-Werke den Journalisten Alexander Werth 1943 wissen, aber ihre Energie sei enorm und ihr Kampf ausschlaggebend gewesen. 36
Heutige Historiker sind keineswegs so sicher, sondern sie machen eher den Regen und den Widerstand der regulären Roten Armee für die kurze, Ende Juli eintretende Pause in Leebs Vormarsch verantwortlich. Selbst wenn die
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