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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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durchreisende Flüchtlinge aus dem Baltikum und von anderswo aus dieser Rechnung aus, sinkt die Zahl auf höchstens 400000. Knapp über 2,5 Millionen Zivilisten blieben in der Stadt zurück, dazu weitere 343000 in den umliegenden Orten innerhalb des Belagerungsrings. Über 400000 waren Kinder, und über 700000 andere nicht arbeitende Abhängige. 6
    Warum konnten nicht mehr Menschen, die für die Verteidigung Leningrads unnötig waren, rechtzeitig abreisen? Verantwortlich war eine Mischung aus bewusster Regierungspolitik, Konfusion und den eigenen fehlerhaften Entscheidungen der Leningrader, verschlimmert durch eine alles durchdringende Atmosphäre der Furcht. Die politische Vorgabe bestand schon seit Kriegsbeginn darin, der Evakuierung von industriellen Anlagen und Institutionen Vorrang gegenüber der nichterwerbstätigen Bevölkerung einzuräumen. Am 3. Juli beschloss das neue fünfköpfige Staatliche Verteidigungskomitee (das höchste, von Stalin geleitete Entscheidungsgremium des Krieges), sechsundzwanzig Rüstungsanlagen – von Leningrad, Moskau und Tula – nach Osten zu transportieren. Das Leningrader Programm wurde am Monatsende beschleunigt, als die Wehrmacht die Luga-Linie erreichte. Bis Ende August hatte man zweiundneunzig Leningrader Rüstungsfabriken, zusammen mit 164320 ihrer Arbeiter, nach Osten verlagert. Die meisten wurden in die Industriestädte des Urals gebracht, wo sie die Produktion mit bemerkenswerter Geschwindigkeit in hastig improvisierten Gebäuden wieder aufnahmen. Dies war eine großartige Leistung, wenn auch nicht so erfolgreich, wie es in sowjetischen Darstellungen erscheint. Das Eisenbahnnetz wurde chaotisch überlastet, man transportierte identische Rohstoffe gleichzeitig in die Stadt herein und aus ihr hinaus, und einige Fabriken wurden demontiert, nachdem es für die Verlegung bereits zu spät war. Über zweitausend Waggons mit Maschinen warteten noch auf Güterbahnhöfen, als die letzte Eisenbahnverbindung aus der Stadt hinaus abgebrochen wurde. Die Waggons standen auch noch nach dem ersten Winter der Belagerung nutzlos herum. 7
    Das andere verhängnisvolle Evakuierungsprogramm der ersten Kriegswochen betraf die Kinder. Am 26. Juni gab der Leningrader Sowjet die Evakuierung von 392000 Kindern in die Landbezirke um Leningrad, Kalinin und Jaroslawl bekannt. Schulen, Kindergärten und Kinderheime wurden einbezogen, die Mütter blieben jedoch außen vor. Es war eine äußerst unpopuläre Maßnahme. »Mein Herz klopfte, alle Gedanken gingen wirr durcheinander«, schrieb Skrjabina, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatte. »Ich wußte nicht, was ich anfangen, welchen Entschluß ich fassen sollte. Der Gedanke einer Trennung von [dem fünfjährigen] Jurik war für mich so entsetzlich …, daß ich beschloß, mich mit allen Kräften dagegen zur Wehr zu setzen und den Jungen auf keinen Fall herzugeben.« 8 Vielen Eltern gelang es, sich dem Befehl zu entziehen, doch andere setzten ihre Kinder in Züge, die Luga, Gattschina, Staraja Russa und andere traditionelle Sommerlager im Süden und Westen von Leningrad zum Ziel hatten. Die ersten zehn Züge – mit 12192 Reisenden – fuhren am 29. Juni ab. Jelena Kotschina beobachtete, wie die Kleinen zu den Bahnhöfen gebracht wurden:
    Wie verängstigte Tiere drückten sie sich auf den Straßen, gingen dem Bahnhof, der Trennungslinie ihrer Kindheit, entgegen: Auf der anderen Seite würde das Leben ohne Eltern beginnen. Die kleinsten Kinder wurden mit Lastwagen befördert; ihre Köpfchen ragten wie goldene Pilze hervor. Wahnsinnige Eltern rannten hinter ihnen her. 9
    Drei Wochen später hatte die Wehrmacht die Luga-Linie erreicht, und den Eltern wurde klar, dass die Behörden ihre Kinder keineswegs in Sicherheit, sondern vielmehr in das Gebiet des deutschen Vormarsches gebracht hatten. »Als wir in dem Dorf eintrafen, erhielten wir Unterkunft in einer Hütte«, schrieb die fünfzehnjährige Klara Rachman aus Staraja Russa. »Ach ja, ich habe ganz vergessen, dass ein deutsches Flugzeug direkt über uns hinwegflog, als wir im Lastwagen saßen. Eine schöne Evakuierung ist das!« 10 Es war nicht leicht, die Kinder zurückzuholen, zumal es seit Verhängung des Kriegsrechts ein Verbrechen war, sich unerlaubt von seinem Arbeitsplatz zu entfernen (der Archivar Georgi Knjasew missachtete das Verbot und gestattete einer seiner Stenotypistinnen, ihre beiden Töchter, neun und zwölf Jahre alt, aus Borowitschi zu holen 11 ). Lidia Ochapkina wurde durch einen

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