Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Dienststellenkantine seiner Mutter. Über militärstrategischen Werken brütend, entwickelte er einen Plan zur Rettung seiner Stadt. Man solle »die Bevölkerung in die Wälder treiben«, und die Rote Armee werde einen Rückzug vortäuschen und die Deutschen in die Falle locken:
Ganz plötzlich, blitzartig und unerwartet (noch unerwarteter, als der 22.6. für uns kam) gehen unsere Panzereinheiten zu einer grandiosen Offensive über und zwingen die Deutschen, sich eng zusammenzuziehen. Dann stürzt sich die Artillerie, die während des Rückzugs die bestmöglichen Stellungen bezogen hat, mit aller Macht auf die zusammengedrängten Einheiten. Nach einer halben Stunde wird das Geschützfeuer einige Kilometer vorverlegt, und unsere Truppen besetzen das bislang beschossene Gelände. Die gesamten Luftstreitkräfte werden über den Feinden konzentriert. Sie schießen pausenlos Angriffe und zerbomben die Reste des Feindes. Kaum kommt dieser ins Wanken, weicht zurück, muss man ihn aus der Luft, zu Wasser und zu Land verfolgen, immer neue Truppen schicken und ihm keine Atempause gönnen.
Rjabinkin wusste jedoch, dass dies reines Wunschdenken war. »Ja, aber das alles ist ein nicht zu verwirklichender, phantastischer Traum«, vertraute er seinem Tagebuch an.
Niemand kann eine solche Offensive durchführen. Außerdem haben wir wenig Panzer … Jeder Leitartikel in den Zeitungen schreit: Wir geben Leningrad nicht auf! Wir verteidigen es bis zum letzten Blutstropfen! … Aber unsere Armee siegt nicht, es fehlt ihr vermutlich an Waffen. Die Milizionäre auf den Straßen, ja sogar Volkswehrangehörige und manche Rotarmisten sind mit Mausergewehren weiß der Teufel welchen Alters ausgerüstet. Die Deutschen preschen mit Panzern vor, und uns bringt man bei, Panzer nicht mit Panzern zu bekämpfen, sondern mit Handgranatenbündeln, manchmal auch mit Brandflaschen. Das sind Zustände. 4
Die alte Künstlerin Anna Ostroumowa-Lebedewa spazierte durchs Stadtzentrum und prägte sich ein (Skizzieren war verboten), wie die öffentlichen Denkmäler Leningrads verborgen wurden. An der Anitschkow-Brücke hatte man Klodts Pferdeskulpturen bereits fortgerollt, um sie in den Gärten vor dem Alexandrinski-Theater (Alexandrinka) zu vergraben. Gegenüber der Isaakskathedrale war die Reiterstatue von Nikolaus I. noch unter den zahllosen Sandsäcken sichtbar, die sie wie dicke Tropfen von oben nach unten zu bedecken schienen. Die Alexandersäule auf dem Palastplatz war von einem Holzgerüst umstellt, doch die Stangen erreichten nicht den triumphierenden Engel, der sein Kreuz weiterhin dem blauen Himmel entgegenreckte. Man hatte darüber debattiert, wie Falconets berühmte Statue von Peter dem Großen, der »Eherne Reiter«, Symbol des alten St. Petersburg und Gegenstand von Puschkins gleichnamigem Gedicht, geschützt werden solle. Manche hatten vorgeschlagen, ihn in der Newa zu versenken, doch nun war er mit Brettern verkleidet. Ostroumowa-Lebedewa beobachtete, wie Freiwillige Sand aus einem in der Nähe vertäuten Kahn entluden, und wünschte sich, ihnen helfen zu können: »Es war heiß, die Sonne brannte. Ich stand da, schaute zu und schämte mich, weil ich nicht selbst arbeitete.« Obwohl ihre Schwester und ihre Nichten Leningrad verlassen hatten, wollte sie bleiben – teils weil es ihr widerstrebte, sich aus der vertrauten Umgebung zu entfernen, doch hauptsächlich aus Solidarität mit ihrer Stadt und reiner Neugier auf die kommenden Ereignisse. »Alle sorgen sich wegen derselben Frage«, schrieb sie am 16. August. »Sollten wir abreisen, und wenn ja, wohin und wie? Was mag die Zukunft bringen? Wie beginnt man ein ganz neues Leben an einem fremden Ort, nachdem man die tröstliche Zuflucht seiner eigenen Wohnung aufgegeben hat? Arme Leningrader! Ich möchte bleiben. Ich möchte unbedingt bleiben und all die schreckenerregenden Ereignisse miterleben.« 5
Die überschüssige Bevölkerung nicht aus Leningrad hinauszuschaffen, bevor sich der Belagerungsring schloss, war einer der schlimmsten Fehler des Sowjetregimes in Kriegszeiten. Er führte zu mehr Todesfällen unter Zivilisten als jeder andere, mit Ausnahme des Versäumnisses, Barbarossa selbst vorherzusehen. Am 29. August, als der letzte Zug abfuhr, waren laut amtlichen Quellen 636283 Menschen aus Leningrad evakuiert worden (verglichen etwa mit 660000 Zivilisten, die man nach der britischen Kriegserklärung vom September 1939 innerhalb weniger Tage aus London ausgesiedelt hatte). Schließt man
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