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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Säugling gehindert, zu ihrem kleinen Sohn zu reisen, konnte jedoch eine zufällige Bekannte in einer Warteschlange für Brot, eine Frau von etwa sechzig bis dreiundsechzig Jahren mit Brille – »sie sah intelligent aus« –, überreden, ihr die Aufgabe abzunehmen: »[Sie] erklärte, sie kaufe für zwei Tage im voraus Brot und wolle ihren Enkel zurückholen. Ich fragte sie, wohin man ihn evakuiert hatte. Sie antwortete, mit dem 21. Kindergarten (ich entsinne mich der Nummer genau), d.h. dorthin, wohin wir auch unseren Jungen geschickt hatten … Sie … fragte, wie alt der Junge sei. Ich sagte, er werde bald sechs (das war gelogen), sei kräftig, könne gut laufen und notfalls weite Strecken zu Fuß zurücklegen.« Am folgenden Tag musste sich Ochapkina im Bezirkssowjet eine Bescheinigung für die Rückkehr des Kindes ausstellen lassen; dort fand sie sich in einer Schar zorniger Mütter wieder: »Alle waren aufgeregt, redeten laut, und einige schrien sogar: ›Bringt unsere Kinder zurück! Sie sollen bei uns bleiben; wenn wir sterben, dann zusammen, dann wissen wir wenigstens, wie und wo.‹« Nachdem sie die Vollmacht erhalten und diese ihrer neuen Freundin mit ihrem gesamten Brotvorrat übergeben hatte, wartete sie ungeduldig auf deren Rückkehr. Zwei Wochen später sah sie die Frau plötzlich mit zwei kleinen Jungen auf dem Hof stehen. Sie stürzte hinaus, umarmte ihren Kolja und erfuhr, dass der Zug bombardiert worden sei. Danach hätten die drei den langen Weg zu Fuß zurückgelegt und seien hin und wieder von Lastwagen oder Pferdefuhrwerken mitgenommen worden. 12
    Unglaublicherweise versuchten die städtischen Behörden sogar, solche Rettungsaktionen zu unterbinden. Die Sekretäre der Bezirksparteikomitees sollten Betriebsdirektoren verbieten, Angestellten Urlaub zu geben, damit sie ihre Kinder heimholten. Eltern müsse vielmehr versichert werden, dass ihre Kinder ungefährdet seien, und es gelte, »die gegenteiligen provozierenden Gerüchte auszumerzen«. 13
    Anfang August wurde eine zweite Welle von Evakuierungen, für Mütter und Kinder unter vierzehn Jahren, angekündigt. Wie nicht überraschen dürfte, zogen Familien es nun häufig vor, sich lieber zu Hause mit dem Risiko abzufinden. »Jetzt ist es schon erlaubt«, schrieb Skrjabina,
    daß Mütter zusammen mit ihren Eltern fahren. Eingeschüchtert jedoch durch die ersten mißlungenen Evakuierungsversuche, weigern sich die Mütter zu fahren, sie reden sich mit allen möglichen Krankheiten heraus, bloß um eine Verzögerung zu erreichen … Auch kommt die Angst vor Epidemien hinzu, denn unterwegs grassieren Typhus, Cholera und andere Magen- und Darmerkrankungen. Überdies werden die Evakuierungszüge mit Bordwaffen beschossen und aus der Luft bombardiert. Die Familie des Direktors der Fabrik, in der Sergej bis zu seinem Einberufungsbefehl arbeitete, hat sich evakuieren lassen. Bald danach traf die Nachricht ein, daß ihr vierzehnjähriger Sohn an Typhus abdominalis gestorben ist. 14
    Ochapkina hingegen wollte unbedingt abreisen, wurde jedoch aufgehalten, als sie Kolja bei einem Luftschutzalarm aus den Augen verlor. Da sie ihn erst einen Tag später auf einem Polizeirevier fand, verpassten beide ihren Zug. »Ich konnte nicht anfangen, die Evakuierungspapiere von neuem zu beantragen. Durch diesen Vorfall entschied es sich: Ich blieb in Leningrad.«
    Sie könnte Glück gehabt haben, denn die Evakuierungszüge wurden, statt in die Provinz Wologda im Osten zu fahren, immer noch nach Süden geschickt, direkt in die Arme von Buschs 16. Armee. Bomber erschienen vor den Panzern und griffen Straßen, Eisenbahnen und Telegrafenlinien an. Die schlimmste der daraus resultierenden Tragödien ereignete sich in Lutschkowo, einer Kleinstadt knapp südlich des Ilmensees. Ein Konvoi aus Jungen und Mädchen im Kindergartenalter erlebte gerade die Begrüßungszeremonie in einem vierzig Kilometer entfernten Kolchos, als die Nachricht eintraf, dass deutsche Fallschirmjäger in der Nähe landeten. »Uns wurde Tee angeboten«, erzählt eine Überlebende, »als der Kolchosdirektor herbeieilte. Ich erinnere mich noch an seine Worte: ›Vor uns sind Nazi-Fallschirmjäger!‹« 15 Man lud die Kinder in Lastwagen und fuhr sie zurück zum Bahnhof Lutschkowo, wo mehrere Tausend weitere Evakuierte schon in einen Zug stiegen. Während die Kinder in der Schlange warteten, tauchte ein Stuka über ihnen auf. »Wissen Sie, der Pilot flog ganz niedrig«, erinnerte sich eine Lehrerin, »sah sich

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