Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
alles an, zog hoch – da explodierte die Bombe auch schon. Später behaupteten sie, sie hätten es nicht gewußt. Unsinn! … Es war herrliches Wetter. Die Kinder waren schön angezogen. Er sah sehr genau, wen er bombardierte.« 16 Der Stuka flog die Plattform entlang und beschoss sie methodisch und präzise. Dann folgte eine gewaltige Explosion, und als sich der Rauch lichtete, lagen die Waggons des Zuges verstreut »wie von einer Riesenhand«.
Es gibt (heftig geleugnete) Berichte über erwachsene Leiter von Evakuierungsgruppen, die inmitten des Chaos flohen oder mit ihren eigenen Kindern nach Leningrad zurückkehrten und die übrigen im Stich ließen. »Der Bahnhof stand in Flammen. Wir konnten niemanden finden. Es war einfach grässlich!«, erzählte eine Mutter über die Durchfahrt durch Mga. »Der Chef des Evakuierungszuges saß, den Kopf in den Händen, auf einem Baumstumpf. Er hatte seine eigene Familie verloren und wusste nicht, wer wohin geraten war.« Herumirrende Kleinkinder, die ihren Namen nicht nennen konnten, fanden ihre Angehörigen nie wieder. 17 Scharen verzweifelter Eltern fuhren zu entlegenen Bahnhöfen, um auf die zurückkehrenden Züge zu warten. Dabei benahmen sie sich so bedrohlich, dass Vertreter von Bezirkssowjets gewarnt wurden, nicht auszusteigen.
Andere Evakuierungsgruppen blieben zwar von Luftangriffen verschont, mussten jedoch endlose, umständliche Reisen, unterbrochen von langen Stopps und Hungerpausen, ertragen. Ein Zug, der gegen Ende August in Richtung der sibirischen Stadt Omsk abfuhr, hatte 2700 Kinder zwischen sieben und sechzehn Jahren an Bord. In Friedenszeiten hätte die Reise drei Tage gedauert, nun jedoch nahm sie sieben Wochen in Anspruch. Die meisten Kinder hatten, wie sich eine sie begleitende Ärztin erinnerte, Reiseproviant bei sich, doch nach ein paar Tagen war er verdorben und musste weggeworfen werden. Evakuierungsstützpunkte an der Strecke stellten lediglich Mehl und Wasser bereit, die sie bei Aufenthalten zu einer Art Brot aufkochten. »Manchmal erhielten sie etwas Milch, aber nicht regelmäßig. Oft litten sie Hunger. Hin und wieder konnten wir Dinge aus einem Feld besorgen – Tomaten oder Karotten –, aber es war unmöglich, sie ordnungsgemäß zu waschen.« Masern und Läuse breiteten sich in den überfüllten Waggons aus, und fünf Kinder fielen ihnen zum Opfer. 18
Die schrecklichen Gerüchte über die Evakuierung der Kinder waren nicht der einzige Grund dafür, dass Teile der Zivilbevölkerung Leningrad nicht verlassen wollten. Viele waren durch Verwandte mit der Stadt verbunden oder fürchteten, dass ein kriegsvermisster Sohn oder Ehemann in eine leere Wohnung heimkehren könnte. Irina Bogdanowa, eine Überlebende der Besatzung, schildert, wie ihre Großmutter die Evakuierung bewusst durchkreuzte. Die Familie sollte mit dem Geologischen Institut, an dem Irinas Mutter arbeitete, die Stadt verlassen. Irina, ihre Mutter und ihre Großmutter hatten die Ausreisegenehmigung erhalten, ihre Tante Nina, die im Verteidigungssektor tätig war, jedoch nicht. Während die Familie mit dem Lastwagen des Instituts zum Bahnhof fuhr, fiel der Großmutter plötzlich ein, dass sie einen Koffer vergessen hatte. Sie bestand darauf, nach Hause zurückzukehren, um ihn zu holen. Danach behauptete sie, es gebe im Lastwagen nicht mehr genug Platz und sie werde mit Irina die Straßenbahn zum Bahnhof nehmen. Dadurch verpasste die ganze Familie den Zug. Wieder zu Hause, berichtet Irina, »saßen wir auf dem Sofa; Mama umarmte mich und sagte: ›Also gut, dann werden wir alle zusammen sterben.‹« Und so kam es. Großmutter, Mutter und Tante fielen alle im Februar und März 1942 dem Hunger zum Opfer. Die achtjährige Irina überlebte und war zehn Tage lang mit zwei Leichen allein, bevor sie von einer Zivilschutzbrigade in ein Waisenhaus gebracht wurde. Siebzig Jahre später – in ihrer Sonntagskleidung an einem Tisch sitzend, der sich unter herrlich zubereiteten Häppchen biegt – erklärt sie im Interview: »[Ich] habe mein ganzes Leben lang mit Vorwürfen an meine Großmutter gelebt. Ich glaube, sie wollte bei Nina bleiben, vergaß absichtlich den Koffer und weigerte sich aus demselben Grund, hinten auf dem Lastwagen zu sitzen.« 19
Für Menschen ohne Arbeitsplatz kam theoretisch eine individuelle Evakuierung in Frage, aber die bürokratischen Erfordernisse waren abschreckend, und ohne gastfreundliche Verwandte in unbesetzten Gebieten konnten sie nicht sicher sein, eine
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