Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Unterkunft zu finden. In der Praxis gelang es ihnen oft, sich dem Personal von Institutionen anzuschließen, deren Evakuierung vorgesehen war, doch das setzte Beziehungen und Einfluss voraus. Eine Freundin Skrjabinas, die Frau eines Fabrikdirektors, bot ihr einen Posten als »Erzieherin« im Werkskindergarten an, der ins Moskauer Gebiet gebracht werden sollte. Einen Tag später meldete sich die Frau erneut. »Mit weinerlicher Stimme teilte [sie] mit, alles sei gescheitert. Die Fabrikarbeiterinnen seien empört gewesen, es habe nicht viel gefehlt und sie hätten das ganze Fabrikkomitee zum Teufel gejagt, als sie erfuhren, daß mit dem Kinderhort auch sozusagen die Fabrikintelligenz verschickt werden sollte.« Skrjabina war sogar erleichtert: »Das Problem, welches mich die ganze Zeit bedrückte, ist durch Umstände gelöst worden, die von mir unabhängig waren. Ich brauche die Alten nicht zu verlassen …« 20
Valerian Bogdanow-Beresowski, der heute vergessene Komponist von Piloten und Ballade von den Männern der Baltikflotte , beschloss zu bleiben, weil er seine Mutter nicht zurücklassen wollte, doch auch weil sich ihm nun die Chance bot, die Leningrader Abteilung des Komponistenverbandes zu leiten, nachdem der vorherige Amtsinhaber nicht aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt war. Andere bezweifelten insgeheim, dass die deutsche Besatzung so schlimm sein würde, wie die Propaganda es darstellte. »Ist es möglich«, fragte Skrjabina ungläubig, »daß sie [die Juden] von den Deutschen nur deshalb vernichtet werden, weil sie Juden sind?« Mitte August schlug sie eine zweite Chance zur Evakuierung aus, weil sie, wie sie in ihrem Tagebuch subtil andeutet, die baldige Kapitulation von Leningrad erwartete. »Wenn der Krieg wirklich mit so halsbrecherischer Geschwindigkeit voranschreitet, wird er wahrscheinlich bald enden. Warum sollen wir einen Ort verlassen, an dem wir so verwurzelt sind? Vielleicht wäre es klüger, in der Wohnung zu bleiben. Was soll ich tun?« Trotzdem vermutete sie eine Provokation, als ein alter Schulfreund auf einer Bank neben ihr Platz nahm: »Ohne Umschweife begann er ein Gespräch mit uns und ließ sich darüber aus, wie glücklich er sei, daß die Deutschen schon vor der Stadt stünden, daß sie in der Übermacht seien, und die Stadt sich, wenn nicht heute, dann morgen werde ergeben müssen … Er lobte mich, daß ich in Leningrad geblieben sei. Dann zeigte [er] mir einen kleinen Revolver und sagte: ›Dies ist für den Fall, daß mich die Erwartungen enttäuschen sollten.‹« Im Puschkinhaus erschien ein jüdischer Kollege von Dmitri Lichatschow – es war der von Olga Gretschina wegen Scheinheiligkeit kritisierte Professor Gukowski – in der Kantine mit »einer Schirmmütze (ein wenig schräg getragen) und einem Hemd mit einem Gürtel im kaukasischen Stil. Er begrüßte uns mit einem Salut und ließ uns im Vertrauen wissen, dass er sich, wenn die Deutschen kämen, als Armenier ausgeben werde.« 21
Der Kunsthistoriker Nikolai Punin, Achmatowas einstiger Mann, überließ sich dem Fatalismus. In der Verdunkelung und Stille nach der Ausgangssperre setzte er sich am Abend des 26. August – desselben Tages, an dem die Baltikflotte endlich die Genehmigung erhielt, aus Tallinn auszulaufen – an seinen Schreibtisch, um sein Tagebuch nach einer Pause von fünf Jahren im Licht einer Lampe weiterzuführen, deren Schirm aus einem Stück blauer Tapete bestand. Für Menschen seiner Generation, schrieb er, sei der Tod nie fern gewesen. »In Wirklichkeit haben sie uns in diesen vergangenen fünfundzwanzig Jahren eingeladen, rasch zu sterben. Viele sind gestorben, der Tod rückt heran, kommt uns so nahe wie möglich. Warum sollten wir an ihn denken, da er doch so ernsthaft an uns denkt?« Das Gefühl des bevorstehenden Unheils erinnerte ihn an den Terror von 1937, als er und all seine Freunde jeden Tag in den frühen Morgenstunden ein Klopfen an der Tür und einen Gefängniswagen erwarteten. Als er die Akademie der Wissenschaften (»Konfusion und Chaos«) früher am Tag besuchte, hatten Kollegen ihm zugeredet, mit ihnen nach Samarkand aufzubrechen.
Aber das würde bedeuten, in den Krieg hineingezogen zu werden. Nein, ich fahre nicht. Es ist besser, gegen Windmühlen zu kämpfen, solange noch die Möglichkeit besteht. Die Lampe brennt, es ist ruhig. Herr, tröste die Seelen, die zum Himmel aufsteigen.
Vor nicht langer Zeit sagte ich jemandem: »Also, es gibt zwei beängstigende Dinge: Krieg und
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