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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Evakuierung. Aber von den beiden ist die Evakuierung schlimmer.« Das ist nur eine Redensart, gewiss. Aber warum haben sie uns nicht während der jeschowschtschina [des Terrors] evakuiert? Damals war es genauso beängstigend. 22
    Den Hintergrund zu solchen qualvollen persönlichen Entscheidungsprozessen bildete die starke allgemeine und halbamtliche Missbilligung gegenüber denjenigen, die schnell die Stadt verlassen wollten. Evakuierte wurden als »Ratten« und beschenzy – »Flüchtlinge« – abgestempelt. Olga Gretschina erlebte einen peinlichen Abschied von einem Brüderpaar, zwei Kommilitonen, deren Mutter ihnen Plätze bei einer archäologischen Ausgrabung in Zentralasien verschafft hatte. »Ich konnte nicht verstehen, wieso gesunde junge Männer sich evakuieren ließen, obwohl alle anderen unbedingt an die Front wollten … Das Gespräch war schwierig. Ich machte ihnen keine Vorwürfe wegen ihrer Abfahrt, aber ich war so überrascht darüber, dass sie zugestimmt hatten.« 23 Genauso schädlich und unvermeidlich war, dass einige Bezirkssowjets ihren Glauben an die Führung zur Schau stellten, indem sie die Evakuierung von Zivilisten in ihrem Bereich zu verhindern suchten. Wie Dmitri Pawlow, damals Chef der nationalen Lebensmittelversorgungsbehörde, es in dem besten sowjetischen Bericht über die Belagerung ausdrückte, »wurde die Weigerung von Bürgern, sich evakuieren zu lassen, als patriotischer Akt betrachtet, auf den man stolz sein konnte, was die Menschen indirekt ermutigte, in der Stadt zu bleiben«. Seiner Meinung nach hätte die Zahl derjenigen, die im Juli und August evakuiert wurden, zwei- oder dreimal höher sein können und müssen. 24 Ironischerweise konnte auch die Weigerung, sich evakuieren zu lassen, als verdächtig gelten. Ein Tagebuchschreiber verzeichnete folgendes Gerücht:
    Es heißt, dass P.S. Andrejew und S.P. Preobraschenskaja (vom Mariinski-Theater) die Abreise verweigert hätten. »Warum?«, wurden sie gefragt. »Wir sind sicher, dass Leningrad nicht übergeben wird«, antworteten sie. Aber bei der Verwaltung dachte man: »Wir kennen euch. Es steht bereits fest, dass Leningrad verlassen werden muss, und ihr wollt zu den Faschisten überlaufen! Wir sollten euch besser vernehmen, um herauszufinden, was für Sowjetmenschen ihr wirklich seid.« 25
    Am 25. August war Leningrad zu drei Vierteln umzingelt. Die Eisenbahnverbindungen nach Westen in die baltischen Staaten waren gekappt worden, genau wie die Direktrouten nach Moskau. Die einzige intakte Linie führte nach Osten und spaltete sich am Eisenbahnknotenpunkt Mga, der nun selbst Schauplatz schwerer Kämpfe war. Im Westen hatte die Rote Armee das gesamte baltische Küstengebiet – mit Ausnahme eines sechzig Kilometer langen Streifens am Finnischen Meerbusen westlich von Peterhof – verloren. Dieser sogenannte Kessel von Oranienbaum, benannt nach einem weiteren Sommerpalast der Zaren, wurde über Kronstadt versorgt und hielt die ganze Belagerung hindurch stand, was allerdings kaum einen strategischen Vorteil einbrachte und einen entsetzlichen Preis kostete. Im Norden hatte die finnische Armee unter General Carl Mannerheim die Grenzen aus der Zeit vor dem Winterkrieg zurückerobert, war nach Russisch-Karelien vorgedrungen und marschierte am nordöstlichen Ufer des Ladogasees entlang. Dies entsprach einem Hitler gegebenen Versprechen, der Wehrmacht am Fluss Swir »die Hände zu schütteln«.
    Die Bedrohung Leningrads beanspruchte nun die ganze Aufmerksamkeit des Kreml. Seit Chruschtschows »Geheimrede« von 1956, die das politische Tauwetter ankündigte, wird die Meinung vertreten, Stalin habe Leningrad absichtlich umzingeln lassen. Er habe den liberalen Tendenzen der Stadt misstraut und ebenso ihrer Vergangenheit als Nährboden für charismatische Politiker wie die Altbolschewiki Kirow (1934 auf mysteriöse Art ermordet) und Grigori Sinowjew (1936 nach einem Schauprozess erschossen). Aber wenn man Stalins wütende – manchmal irrationale – Tiraden vom Spätsommer und Herbst 1941 liest, löst sich diese Theorie auf. Obwohl er tatsächlich darüber nachdachte, die Stadt aufzugeben, um seine Heere zu retten, so bedeutete dies unverkennbar auch für ihn nur einen verzweifelten letzten Ausweg.
    Irgendwann zwischen dem 21. und dem 27. August, während deutsche Panzer bereits durch die Eisenbahnstädte südlich von Leningrad rollten, machte sich eine »Sonderkommission« vom Kreml nach Leningrad auf. Zu ihr gehörten Molotow sowie die

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