Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Chefs der Luftwaffe, Marine und Artillerie, Handelskommissar Alexej Kossygin und, vor allem, Georgi Malenkow, der neununddreißigjährige aufsteigende Star, der kurz zuvor ins Staatliche Verteidigungskomitee, das fünfköpfige Entscheidungsgremium, berufen worden war. Missachtet von Schdanow, der Malenkow wegen seiner Birnengestalt den dienstmädchenhaften Spitznamen »Malanja« verliehen hatte, war der Mann mit dem glatten Kinn und der hohen Stimme ein Kumpan von Schdanows Erzfeind, dem NKWD-Chef Berija. Die Kommission sollte offiziell eine »Bewertung der komplizierten Lage« abgeben. In Wirklichkeit aber dürfte es um die Frage gegangen sein, ob Leningrad überhaupt verteidigt werden konnte. Allein die Reise bewies, wie nahe man der Katastrophe bereits gekommen war. Nachdem die Gruppe nach Tscherepowez, einem Eisenbahnort vierhundert Kilometer östlich von Leningrad, geflogen war, bestiegen sie einen Zug, der sie nach Mga brachte. Dort wurden sie von einem Luftangriff zum Halten gezwungen. Feuer erhellte den Nachthimmel, und Flugabwehrgeschütze hämmerten, als die Kreml-Größen ausstiegen und an den Gleisen entlang zu einer gewöhnlichen Straßenbahn stolperten; diese brachte sie zu einem zweiten Zug, mit dem sie schließlich in die Stadt gelangten.
Die Kommission blieb etwa eine Woche lang in Leningrad, und Stalin bombardierte Schdanow unablässig mit Befehlen, die der sich rasch wandelnden Realität nun völlig fern waren. 26 Am 27. August rief er mit einem fantastischen Plan im Smolny an: Man solle Panzer »durchschnittlich alle zwei Kilometer, an manchen Orten alle 500 Meter, je nach dem Boden«, an einer neuen, hundertzwanzig Kilometer langen Verteidigungslinie von Gattschina bis zum Fluss Wolchow postieren. »Die Infanteriedivisionen werden direkt hinter den Panzern stehen und sie nicht nur als Kampftruppe, sondern auch als Verteidigungsmittel benutzen. Dafür werden 100–120 KWs [ein schwerer Panzertyp] benötigt. Ich glaube, diese Zahl von KWs kann in zehn Tagen produziert werden … Ich erwarte Ihre rasche Antwort.« 27 Am folgenden Tag äußerte Schdanow sein übliches sklavisches Einverständnis. Stalins Plan für eine Verteidigungslinie »besonderer Art« sei »absolut korrekt«, weshalb er, Schdanow, um Erlaubnis bitte, die Evakuierung der Ischorsker und der Kirow-Waffenfabriken zu verschieben, damit ihre Panzerproduktion zur Verwirklichung des Projekts herangezogen werden könne.
Am 29. August eroberten die Deutschen Tosno, nur vierzig Kilometer von Leningrad entfernt an der Moskauer Straße. Zudem erreichten sie das Südufer der Newa und teilten dadurch die sowjetischen Kräfte, die Leningrad im Südosten verteidigten. Vor Wut und Paranoia schnaubend, telegrafierte Stalin ausschließlich an Molotow und Malenkow:
Mir ist gerade mitgeteilt worden, dass der Feind Tosno eingenommen hat. Wenn es so weitergeht, fürchte ich, dass Leningrad aus idiotischer Dummheit übergeben wird und dass alle Leningrader Divisionen in Gefangenschaft geraten. Was tun Popow und Woroschilow? Sie lassen mich nicht einmal wissen, wie sie planen, die Gefahr abzuwenden. Sie halten Ausschau nach neuen Rückzugslinien; so schätzen sie ihre Pflicht ein. Woher kommt ihre abgrundtiefe Passivität, diese bäuerliche Unterwerfung dem Schicksal gegenüber? Ich verstehe sie einfach nicht. Zurzeit sind zahlreiche KW-Panzer in Leningrad, eine Menge Flugzeuge … Warum werden all diese Geräte nicht im Ljuban-Tosno-Sektor eingesetzt? Was kann irgendein Infanterieregiment ohne Ausrüstung gegen deutsche Panzer vollbringen? … Scheint es Ihnen nicht auch so, dass jemand den Deutschen bewusst den Weg frei macht? Was für ein Mann ist Popow? Wie verbringt Woroschilow seine Zeit, was tut er, um Leningrad zu helfen? Ich schreibe diese Worte, weil die Nutzlosigkeit der Leningrader Befehlshaber so absolut unverständlich ist. Ich glaube, Sie sollten nach Moskau reisen. Bitte keine Verzögerung. 28
Wie nahe Popow und Woroschilow tatsächlich daran waren, durch einen Nackenschuss getötet zu werden, können wir nicht wissen. Malenkow und Molotow sparten jedenfalls nicht mit Kritik und achteten darauf, Schdanow ebenfalls nicht zu verschonen. In ihrer Antwort an Stalin am selben Tag rühmten sie sich damit, Schdanows und Woroschilows Fehler scharf kritisiert zu haben, etwa die Gründung des Leningrader Verteidigungsrats, die Erlaubnis für Bataillone, ihre Offiziere zu wählen, die Verzögerung der Evakuierung von Zivilisten und das
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