Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Schlachten und unbarmherzigen Demonstrationen militärischen Willens als Wendepunkt dargestellt. In neueren Interpretationen legt man den Nachdruck jedoch weniger auf Schukows (weiterhin unbezweifelte) taktische Brillanz, als auf einen früheren Strategiewandel der deutschen Seite. Nach dieser Version war weniger die Gegenwehr der Roten Armee ausschlaggebend, sondern eher die Entscheidung der Deutschen, ihren Konzentrationspunkt zu verlagern.
Seit der Einleitung von Barbarossa schwelte zwischen Hitler und seinen Generalen Unstimmigkeit darüber, ob Moskau oder Leningrad das wichtigere strategische Ziel sei. Hitlers ursprüngliche Weisung vom Dezember 1940, in der Barbarossa grob umrissen wurde, war eindeutig: Erst wenn die baltischen Länder, Leningrad und Kronstadt eingenommen, die Baltische Rotbannerflotte ausgeschaltet und die Leningrader Rüstungsbetriebe in deutschen Besitz gebracht worden waren, sollte der Vormarsch auf Moskau beginnen. Die Befehlshaber der Wehrmacht, angeführt von Generalstabschef Franz Halder, waren dagegen anderer Meinung: Die Hauptstadt und größte Metropole Russlands müsse an erster und Leningrad an zweiter Stelle stehen.
Diese Unstimmigkeit, die durch den Beginn von Barbarossa zunächst verdrängt worden war, kam Mitte Juli wieder zum Vorschein, als Leeb mehr Soldaten und Gerät für seine Heeresgruppe Nord anforderte. Eine parallel verlaufende Auseinandersetzung darüber, ob man eingekreiste russische Orte während des Vormarschs zunächst umgehen oder gleich besetzen solle, wurde zugunsten der Generale entschieden, doch in puncto Leningrad blieb Hitler fest. Seine Mahnungen hinsichtlich der Bedeutung von Moskau, murrte Halder am 26. Juli in seinem Tagebuch, sei ohne gültige Gegenargumente missachtet worden. Zehn Tage später, als sich die Wehrmacht Nowgorod näherte, machte Halder über General Paulus einen weiteren Versuch, die strategische Wichtigkeit Moskaus hervorzuheben, doch der Führer sei »bei seiner Melodie« geblieben: »1. Leningrad, wozu Hoth [Kommandeur der Panzergruppe 3 der Heeresgruppe Mitte] eingesetzt werden soll. 2. Ostukraine … 3. Erst in letzter Linie Moskau.« Am folgenden Tag versuchte Halder, General Alfred Jodl für sich zu gewinnen: »Bezüglich der einzelnen Ziele führe ich aus, daß das Ziel Leningrad mit den dafür angesetzten Kräften erreichbar ist. Wir brauchen und dürfen für dieses Ziel nichts ausgeben, was wir für Moskau brauchen. Für die Flanke Leeb besteht keine Gefahr … [Fedor von] Bock alle Kräfte für Moskau (Frage an den Führer, ob er darauf verzichten kann, vor Herbst Moskau zu liquidieren).« 14
Zunehmend verärgert über Leebs Bitten um mehr Ressourcen und über Hitlers versuchtes Mikromanagement von Militäroperationen, wurde Halder durch eine Führerweisung vom 21. August, die mit den Plänen des Oberkommandos des Heeres nicht in Einklang zu bringen war, zu Rücktrittsgedanken getrieben. »Der Vorschlag des Heeres für die Fortführung der Operationen im Osten stimmt mit meinen Absichten nicht überein«, erklärte Hitler. »Das wichtigste, noch vor Einbruch des Winters zu erreichende Ziel ist nicht die Einnahme von Moskau, sondern die Wegnahme der Krim, des Industrie- und Kohlengebietes am Donez und … im Norden die Abschließung Leningrads und die Vereinigung mit den Finnen.« Erst wenn diese Ziele realisiert seien, fuhr Hitler fort, würden Streitkräfte für den Vormarsch auf die Hauptstadt zur Verfügung stehen.
Halder war außer sich. Hitlers Einmischung sei unerträglich, und der Führer trage die alleinige Verantwortung für »den Zickzack in seinen Einzelanordnungen«. Das Oberkommando des Heeres (OKH), das nun seinen vierten siegreichen Feldzug bestreite, solle »seinen guten Namen« nicht durch Hitlers neueste Anordnungen »beflecken« lassen, und die Behandlung von Brauchitschs, des Oberbefehlshabers des Heeres, sei »unerhört«. Halder schlug Brauchitsch vor, mit ihm zusammen seinen Rücktritt einzureichen, doch dieser lehnte ab, »weil es praktisch doch nicht zur Niederlegung des Amtes käme, also nicht geändert würde«. 15 Der Streit wurde abgeschwächt, da Hitler erklärte, »es nicht so gemeint zu haben«. (»Jedenfalls ist das Ergebnis eitel Liebe und Freude«, notierte Halder am 30. August sarkastisch. »Alles ist wieder gut.«) Erst am 5. September waren die Differenzen überwunden, als Hitler endlich damit einverstanden war, dass Hoepners Panzergruppe 4, wenn Leeb Leningrad nicht innerhalb von zehn
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