Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Tagen eingenommen habe, nach Süden zu versetzen sei und sich von Bocks Sturm auf Moskau anschließen solle. 16 Nach Lage der Dinge hatten Leebs Proteste und seine Versprechen des bevorstehenden Sieges zur Folge, dass die Verlegung sich um drei Tage verzögerte, doch Halder hatte mit seiner Argumentation recht behalten. »Der Ring um Leningrad ist noch nicht so eng geschlossen, wie es wünschenswert wäre«, schrieb er, als die Panzer nach Süden schwenkten. »Ob man nach Herausnehmen der Pz.Div. 1 und der 36. mot. Div. noch weitere Fortschritte wird erwarten dürfen, ist fraglich. In Anbetracht des Kräfteverbrauchs von Leningrad … wird die Lage bis auf weiteres gespannt bleiben, bis der Hunger als Bundesgenosse wirksam wird.« 17
Diese Umgruppierung schien damals keine überwältigende Rolle zu spielen. Auf deutscher Seite wurde sie als zeitweiliger Kompromiss betrachtet, auf russischer verstärkte sich das Gefühl einer sich abzeichnenden Katastrophe. Doch im Rückblick war es der Moment, in dem Deutschland seine beste Chance zur Eroberung Leningrads verpasste. Nie wieder, trotz über zweijähriger, fast unablässiger Kämpfe, sollte die Heeresgruppe Nord die Mobilität und Feuerkraft für einen umfassenden Frontalangriff auf die Stadt besitzen. Stattdessen wurde die Heeresgruppe Nord zum permanenten Stiefkind der Ostfront, das keine Verstärkungen mehr erhielt und sich nicht in der Lage sah, Soldaten in die Reserve zu verlegen, weil man befürchten musste, dass diese sofort anderswohin geschickt werden würden. Während Heere im Süden und in der Mitte Russlands hin und her marschierten, erstarrte die Front um Leningrad – ganz im Gegensatz zu Hitlers Planung für Barbarossa – im Schlamm und Blut eines Stellungs- und Grabenkrieges, in dem keine Seite trotz wiederholter Offensiven je die Kraft aufbrachte, die andere entscheidend zu schwächen.
Die Strategie der Wehrmacht – von Bodenangriffen über Aushungerung bis hin zu Luftangriffen – wurde offiziell in einer Kommandosache bestätigt, die am 28. September in Halders Namen in der Heeresgruppe Nord zirkulierte:
Auf Grund dieser Weisung der Obersten Führung wird befohlen:
1. Die Stadt Leningrad ist durch einen möglichst nahe an die Stadt heranzuschiebenden und dadurch Kräfte sparenden Ring einzuschließen. Eine Kapitulation ist nicht zu fordern.
2. Um zu erreichen, dass die Stadt als Zentrum des letzten roten Widerstandes an der Ostsee möglichst bald ausgeschaltet wird, ohne dass grössere eigene Blutopfer gebracht werden, ist die Stadt infanteristisch nicht anzugreifen. Sie ist vielmehr nach Niederkämpfen der Luftabwehr und der feindlichen Jäger durch Zerstörung der Wasserwerke, Lagerhäuser, Licht- und Kraftquellen ihrer Lebens- und Verteidigungsfähigkeit zu berauben. Die militärischen Anlagen und Verteidigungskräfte des Gegners sind durch Feuer und Beschuss niederzukämpfen. Jedes Ausweichen der Zivilbevölkerung gegen die Einschliessungstruppen ist – wenn notwendig unter Waffeneinsatz – zu verhindern.« 18
Die Sorge, die deutsche Infanterie schonen zu müssen, erschien real. Straßenkämpfe in Smolensk waren die Heeresgruppe Mitte teuer zu stehen gekommen, und das gerade besetzte Kiew war im Chaos versunken, als das NKWD Dutzende von Bomben durch Fernbedienung detonieren ließ (in Hotels und wichtigen Gebäuden versteckt, töteten sie mehrere hohe deutsche Offiziere). Auch in Hitlers Tischgespräche schlich sich allmählich Frustration ein. Seine üblichen Fantastereien, seine Mann-von-Welt-Reiseberichte und seine durcheinandergewürfelten Ansichten waren nun mit Klagen über die Hartnäckigkeit der sowjetischen Verteidigung durchsetzt. Zum Beispiel grollte er am 25. September beim Mittagessen, dass jeder sowjetische Kommandeur, der die Befehle nicht erfülle, das Risiko auf sich nehme, seinen Kopf abhacken zu lassen. Deshalb zögen sie es vor, von den Deutschen ausgelöscht zu werden. Diese hätten die erbitterte Zähigkeit vergessen, mit der die Russen im Ersten Weltkrieg gekämpft hätten. 19
In der Entscheidung, Leningrad nicht zu stürmen, spiegelte sich auch die größere Unschlüssigkeit der nationalsozialistischen Führung darüber wider, was mit den beiden russischen Hauptstädten zu tun sei, wenn sie in deutsche Hände fielen – eine Unschlüssigkeit, die vielleicht unterbewusst durch die Erinnerung an Napoleons Debakel vor Moskau gespeist wurde. 1
Der ursprüngliche Plan hatte darin bestanden, einfach beide Städte –
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