Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
brennende Ischorsker Fabrik den Himmel wie eine falsche Morgenröte. Näher bei Leningrad waren die Straßen nicht mehr von so vielen Kratern übersät, und sie wurde von einem Armeelastwagen voll Verwundeter mitgenommen. Der Fahrer setzte sie ab, sobald sie mit einer Straßenbahn in die Stadt fahren konnte. Um 10 Uhr erreichte sie schließlich die Isaakskathedrale, in deren großen, »trüben, grimmigen, kalten und feuchten« Räumen sie sich die gesamte Belagerung hindurch aufhalten sollte – zusammen mit dem Personal und den geretteten Beständen aller anderen aufgegebenen Sommerpaläste. 9
Am selben Tag, als die Deutschen in Pawlowsk einzogen, eroberten sie auch den Nachbarort Puschkin. Hier wurde ihre Ankunft für eine geordnete Evakuierung ebenfalls zu spät bekanntgegeben. Einmal schickte man Ortsansässige, die nach Leningrad geflohen waren, sogar wieder heim, weil ihnen Aufenthaltsgenehmigungen fehlten. Die leidenschaftlich antibolschewistische Olga Ossipowa betrachtete mit ironischer Distanz, wie ihre Freunde und Bekannten um eine Entscheidung rangen. Eine Spaltung, schrieb sie am 17. August, habe sich zwischen »Patrioten« und »Defätisten« entwickelt: »›Patrioten« versuchen, sich so schnell wie möglich evakuieren zu lassen, während die Letzteren, wie wir, dies mit allen Mitteln vermeiden wollen.« Sie und viele andere zogen es vor, den Berichten über NS-Gräueltaten keinen Glauben zu schenken. »Natürlich«, redete sie sich in ihrem Tagebuch ein, »ist Hitler nicht das Ungeheuer, als das unsere Propaganda ihn darstellt … Menschen, denen die Juden in Deutschland, die Neger in Amerika und die Inder in Indien leidtun, vergessen unsere eigenen ausgeplünderten Bauern, die wie Küchenschaben ausgerottet wurden.« Sogar einige ihrer jüdischen Freunde stimmten ihr zu. »Von vielen Juden haben wir gehört: ›Warum sollen wir ausreisen? Na ja, vielleicht werden wir eine Weile in Lagern sitzen müssen, aber dann werden sie uns entlassen. Schlimmer als jetzt kann es nicht sein.‹«
Während die Kämpfe näherrückten, stieg die Besorgnis. Ossipowas Nachbarin, eine frühere Parteiangehörige, verbrachte den Abend des 2. September damit,
dass sie zwischen ihrem Zimmer und der Müllhalde auf dem Hof nebenan hin- und herlief, die Arme voller Lenin-Werke in rotem Einband. Wenn sie die Bücher des großen Genies nicht dem Müll anvertraute, kam sie hin und wieder zum Plaudern und zu einer Zigarette bei uns vorbei. Sie beklagte ihr Los und jammerte über die Sowjetregierung. Ich sehe nun ein, dass die Sowjetmacht auf keinem guten Weg ist, denn NF ist keine Frau, die von ihren Emotionen beherrscht wird. Sie wuchs unter den Sowjets auf und hat sämtliche Stufen der Parteileiter, von den höchsten bis zu den niedrigsten, beobachten können. All das hat sie zu einer Zynikerin werden lassen, und sie glaubt nicht mehr an den kommunistischen Unsinn, an den idealistischen Traum. Es ist amüsant, sie zu betrachten, aber sie sollte sich vor den Deutschen in Acht nehmen, da sie mit drei Juden verheiratet war und ihre Tochter Halbjüdin ist. Und sie selbst hat kommunistische Federn am Schnabel.
Im Halbdunkel des überfüllten Luftschutzbunkers wurden ungewöhnlich freimütige Gespräche geführt. Die Menschen redeten, schrieb Ossipowa, »über Dinge, die wir vor dem Krieg nicht im Schlaf oder nicht einmal in betrunkenem Zustand erwähnt hätten, außer in der Gesellschaft von engsten Vertrauten. Ich sitze hier, schreibe ganz offen mein Tagebuch, und niemand schenkt mir die geringste Aufmerksamkeit.« Als die Geschosse in Puschkin einzuschlagen begannen, zogen ihre Nachbarn und sie dauerhaft in ihre Keller. Ossipowa sehnte sich nach dem, was sie für Befreiung hielt. »Wir sitzen den ganzen Tag lang nur«, notierte sie am 15. September. »Völlige Verwirrung scheint sich ausgebreitet zu haben. Wir fragten: Wo sind die Deutschen? In Kusmino. Das bedeutet, dass sie in ungefähr zwei Stunden hier sein werden.« Zwei Tage später waren die Straßen immer noch leer:
Noch keine Deutschen. Wir gingen in den Ort. Überwältigende Stille … Überhaupt kein Zeichen von den Behörden. Wenn sie hier sind, dann verstecken sie sich. Alle haben Angst, dass unsere Leute kommen könnten und nicht die Deutschen … Wenn es die Deutschen sind, dürfte es ein paar unwichtige Einschränkungen geben und dann FREIHEIT. Wenn es die Roten sind, werden wir mehr von diesem hoffnungslosen Dahinvegetieren und höchstwahrscheinlich
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