Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Repressionen erleben …
Am folgenden Tag erhielt sie den ersten unbehaglichen Hinweis darauf, dass die Nazis tatsächlich ganz anders waren, als sie es sich nach der Schullektüre von Heine und Schiller vorgestellt hatte. Sie hob ein antisemitisches Propagandablatt auf, das ein deutsches Flugzeug abgeworfen hatte. »Welche Mittelmäßigkeit, Dummheit, Grobheit. ›Schlagt den Jidden, den Politruk. Seine Fresse verlangt nach einem Ziegelstein!‹ Und welch eine vulgäre, verstümmelte Sprache … Ist es möglich, dass wir uns irren, dass die Deutschen wirklich so schlimm sind, wie die Sowjetpropaganda sie darstellt?« Am 19. September war das Warten endlich vorbei. »Es ist soweit«, schrieb sie frohlockend in ihr Tagebuch, »DIE DEUTSCHEN SIND GEKOMMEN! Zuerst war es schwer zu glauben. Wir kletterten aus dem Luftschutzkeller und sahen zwei wirkliche deutsche Soldaten dahinschreiten. Alle eilten auf sie zu … Die alten Frauen hasteten zurück in den Keller und holten Süßigkeiten, Zuckerstücke und Weißbrot hervor.« Der Eintrag endet: »KEINE ROTEN MEHR! FREIHEIT!«
Es war ein verhängnisvoller Irrtum – oder vorsätzliche Blindheit. Einer derjenigen, die aus Puschkin nach Leningrad flohen, war der Komponist Bogdanow-Beresowski, der in einem Flügel des Katharinenpalasts gewohnt hatte, bevor er mit den übrigen Mitgliedern des Musikerverbands zum Verladen von Bauholz in die Leningrader Docks geschickt wurde. Kurz nach dem Fall von Puschkin stieß er auf eine frühere Nachbarin, die die Übernahme des Ortes miterlebt und sich dann zu Fuß in die Stadt aufgemacht hatte:
Sie erzählte uns schreckliche Dinge … Eine gewöhnliche Deutschlehrerin an der Mittelschule von Puschkin übernahm eine »Führungsrolle«, indem sie sich freiwillig als Dolmetscherin meldete und verschiedene Kommunisten identifizierte, darunter die reizende Anetschka Krassikowa von der Palastverwaltung. Anetschka – hübsch, jung, immer fröhlich – kam häufig bei uns vorbei. Ihr Gesichtchen wurde nicht einmal durch den Kneifer verdorben, obwohl er überhaupt nicht zu ihr passte. Ihr Mann und ihr fünfjähriger Junge konnten rechtzeitig abreisen, aber sie war für die Luftschutzbunker des Palastes zuständig, in denen sich ein großer Teil der Ortsbevölkerung versteckte. Dadurch schaffte sie es nicht, sich mit einem Lastwagen oder zu Fuß zu entfernen. Die Faschisten erschossen sie und verschiedene andere auf dem Rasen gegenüber dem Exerzierplatz, neben dem Monogramm-Tor, nachdem sie zuerst ihre eigenen Gräber hatten graben müssen. Ein altes jüdisches Paar – die Litschers vom rechten Flügel – wurde aufgehängt (die alte Dame war so stolz auf ihren Jungen, den Panzerfahrer!). Das Gleiche geschah mit drei Juden vom linken Flügel, zwei von ihnen großohrige Jungen von vielleicht sieben oder acht Jahren, die früher immer an unseren Fenstern vorbeirannten. 10
Der ersten Jagd der Deutschen auf die Juden und Kommunisten von Puschkin folgte bald ein Befehl, dass alle Juden am 4. Oktober zur »Registrierung« im Büro der Kommandantur – gegenüber dem Kino »Avantgarde« an der Ecke der Ersten-Mai-Straße – erscheinen sollten. Mehrere hundert Menschen, hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Leute, folgten dem Befehl. Von der Kommandantur ließ man sie zum Katharinenpalast marschieren und sperrte sie mehrere Tage lang ohne Lebensmittel und Wasser im Keller ein, bevor sie in Gruppen herausgeholt und auf dem Flugplatz oder in einem der Schlossparks erschossen wurden. Ihre Kleidung warf man aus einem Fenster in der zweiten Etage des Lyzeums – berühmt für seinen früheren Schüler Puschkin – zu der wartenden Menge hinunter.
Die Massenverhaftungen setzten sich mehrere Wochen lang fort. Am 20. Oktober wurden weitere fünfzehn Erwachsene und dreiundzwanzig Kinder vor dem Katharinenpalast erschossen. Nachdem die Leichen zwölf Tage lang im Freien gelegen hatten, warf man einige in einen Bombenkrater im Schlosshof und beerdigte die übrigen in den Gärten. Es gab Fälle, in denen Juden von ihren nichtjüdischen Nachbarn versteckt wurden, aber es kam auch zu Anzeigen, die, wie zur Zeit des Terrors, durch die Gier nach dem Wohnraum der Opfer motiviert waren. So geschah es der Buchhalterin des Katharinenpalasts und ihrem Mann. Sie wurden von einem der Tischler verraten, der in ihre Wohnung im rechten Palastflügel einziehen wollte; später arbeitete dieser Mann als Spitzel für die SS. Obwohl die jüdische Bevölkerung im Leningrader
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