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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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im Einklang mit Hitlers Jahrtausendvision von einem glänzenden, neu erbauten Ostreich – einzunehmen. »Feststehender Beschluß des Führers ist es, Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen«, hatte Halder nach einem Treffen Anfang Juli notiert, »um zu verhindern, daß Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müßten.« Dies werde den Russen zudem einen vernichtenden psychologischen Schlag versetzen und »nicht nur den Bolschewismus, sondern auch das Moskowitertum der Zentren berauben«. 20 Nun, während die Heeresgruppe Nord den Ring um Leningrad schloss, begannen Stabsoffiziere im Oberkommando – mit außerordentlicher Oberflächlichkeit und Unmenschlichkeit – zu erwägen, was in der Praxis mit der Zivilbevölkerung geschehen solle. In einer Planungssitzung vom 21. September wurden die Möglichkeiten erörtert:
    1. Stadt besetzen, also so verfahren, wie wir es mit anderen russischen Großstädten gemacht haben:
    Abzulehnen, weil uns dann die Verantwortung für die Ernährung zufiele.
    2. Stadt eng abschliessen, möglichst mit einem elektrisch geladenen Zaun umgeben, der mit M.G.s bewacht wird:
    Nachteile: Von etwa 2 Millionen Menschen werden die Schwachen in absehbarer Zeit verhungern, die Starken sich dagegen alle Lebensmittel sichern und leben bleiben. Gefahr von Epidemien, die auf unsere Front übergreifen. Ausserdem fraglich, ob man unseren Soldaten zumuten kann, auf ausbrechende Frauen und Kinder zu schießen.
    3. Frauen und Kinder, alte Leute durch Pforten des Einschliessungsringes abziehen, Rest verhungern lassen:
    a) Abschieben über den Wolchow hinter die feindliche Front theoretisch gute Lösung, praktisch aber kaum durchführbar. Wer soll Hunderttausende zusammenhalten und vorwärts treiben? Wo ist dann die russische Front?
    b) Verzichtet man auf den Abmarsch hinter die russische Front, verteilen sich die Herausgelassenen über das Land [d.h. über das von deutschen Soldaten besetzte Territorium].
    Auf alle Fälle bleibt Nachteil bestehen, dass die verhungernde Hauptbevölkerung Leningrads einen Herd für Epidemien bildet und dass die Stärksten noch lange in der Stadt weiterleben.
    4. Nach Vorrücken der Finnen und vollzogener Abschliessung der Stadt wieder hinter die Newa zurückgehen und das Gebiet nördlich dieses Abschnitts den Finnen überlassen.
    Finnen haben inoffiziell erklärt, sie würden Newa gern als Landesgrenze haben, Leningrad müsse aber weg. Als politische Lösung gut. Frage der Bevölkerung Leningrads aber nicht durch Finnen zu lösen. Das müssen wir tun.
    Zum Abschluss wurde eine wenig plausible, dreistufige Lösung vorgeschlagen. Erstens würde die deutsche Regierung »vor der Welt feststellen«, dass Stalin Leningrad als militärisches Objekt behandele und Deutschland deshalb gezwungen sei, das Gleiche zu tun. Außerdem werde man erklären: »Wir gestatten dem Menschenfreund Roosevelt, nach einer Kapitulation Leningrads die nicht in Kriegsgefangenschaft gehenden Bewohner unter Aufsicht des Roten Kreuzes auf neutralen Schiffen mit Lebensmitteln zu versorgen oder in seinen Erdteil abzubefördern, und sagen für diese Schiffsbewegung freies Geleit zu (Angebot kann selbstverständlich nicht angenommen werden, nur propagandistisch zu werten).« Zunächst werde man die Stadt durch Bombardements schwächen und dann einzelne Pforten öffnen, um Wehrlose hinauszulassen: Der »Rest der ›Festungsbesatzung‹ wird den Winter über sich selbst überlassen. Im Frühjahr dringen wir dann in die Stadt ein (wenn die Finnen es vorher tun, ist nichts einzuwenden), führen das, was noch lebt, nach Innerrußland bzw. in die Gefangenschaft, machen Leningrad durch Sprengungen dem Erdboden gleich und übergeben den Raum nördlich von Newa den Finnen.« Die Planer räumten ein, dass diese Vorschläge nicht sehr befriedigend seien, und die Heeresgruppe Nord müsse, wenn es so weit sei, »einen Befehl bekommen, der wirklich durchführbar ist«. 21
    Die deutschen Marinechefs hatten ähnliche Vorbehalte – wiederum aus praktischen und propagandistischen, nicht aus humanitären Beweggründen. Ein der Heeresgruppe Nord zugeordneter Verbindungsoffizier schrieb am 22. September, dem Tag nach der holzschnittartigen Planungssitzung des Oberkommandos, an seinen Admiral und gab seinem persönlichen Zweifel Ausdruck, dass Leningrad vernichtet werden könne, »ohne dass ein deutscher Soldat seinen Boden betritt«:
    M.E. lassen sich nicht 4–5 Millionen Menschen [sic!] so einfach

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