Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
vor unseren Augen.« 26
Letztlich blieb das Problem hypothetisch. Die Leningrader Führung versuchte nie, über eine Kapitulation zu verhandeln, und die gewöhnliche Leningrader Bevölkerung riskierte keinen Massenausbruch. Auch Deutschland hielt sich nicht an seine eigene verworrene Planung. Man ließ nie Lücken in den eigenen Linien, damit krankheitsverseuchte Überlebende der Hungersnot ins unbesetzte Russland fliehen konnten, im Gegenteil, Kähne und Lastwagen, die Flüchtlinge über den Ladogasee brachten, wurden wiederholt angegriffen. In den folgenden drei Wintern verfolgte die Wehrmacht eine klassische Belagerungsstrategie, indem sie Bewegungen von Menschen und Gütern in die Stadt und aus ihr heraus so gut wie möglich verhinderte und Luft- und Bodenbombardements einsetzte, um Lebensmittelvorräte, Versorgungsunternehmen, Fabriken, Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser zu demolieren. (»Besonders kommt es darauf an«, hieß es in einer Führerweisung kurz vor den ersten Luftangriffen, »die Wasserwerke zu zerstören.« 27 ) Die Hungersnot war keinesfalls ein unerwartetes und bedauerliches, wenngleich notwendiges Nebenprodukt dieser Strategie, sondern ihr Hauptbestandteil, der in Planungsdokumenten immer wieder gebilligt und von der Militäraufklärung mit großem Interesse verfolgt wurde.
Dies war ein Verbrechen nicht der Nationalsozialisten, sondern der Wehrmacht, wie die Deutschen erst in jüngerer Vergangenheit widerwillig einräumen. Goebbels und Himmler befürworteten die Ausrottung der Slawen enthusiastisch, hatten jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen in Bezug auf Leningrad, die von Hitler, Halder, Brauchitsch, Jodl und Leeb gefällt wurden. Obwohl Angehörige des OKH in den Wochen nach dem Einmarsch in die Sowjetunion heftige Meinungsverschiedenheiten mit Hitler hatten, stützten sie sich dabei allein auf die militärische Zweckmäßigkeit. Ethische Überlegungen scheinen keinen einzigen hohen Offizier veranlasst zu haben, seine Haltung in Frage zu stellen, die vorhersehbar und vorsätzlich zum langsamen und qualvollen Hungertod von ungefähr einer Dreiviertelmillion nicht am Kampf Beteiligter, unter ihnen ein hoher Prozentsatz von Frauen und Kindern, führte.
Auch brauchte die Wehrmacht nach dem Krieg nicht vollauf Buße zu leisten. Jodl, Unterzeichner des amtlichen Befehls zur Belagerung von Leningrad, wurde vom Internationalen Gerichtshof in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen verurteilt und gehängt. Leeb dagegen kam äußerst glimpflich davon. Er war im Dezember 1941 aus Krankheitsgründen in den Ruhestand getreten und wurde in Nürnberg zu lediglich drei Jahren Haft verurteilt. Sein Nachfolger als Chef der Heeresgruppe Nord, Georg von Küchler, obwohl zu zwanzig Jahren verurteilt, wurde bereits acht Jahre nach dem Krieg aus persönlichen Gründen entlassen. Von schmerzlicher Ironie war das Schicksal Franz Halders und Erich Hoepners, der die Panzergruppe 4 der Heeresgruppe Nord befehligte. Hoepner, obwohl ein fanatischer Rassist – die SS lobte ihn wegen seiner »besonders engen und herzlichen« Kooperation bei der Ermordung Zehntausender baltischer Juden 28 –, schloss sich angesichts der drohenden Niederlage der Verschwörung vom 20. Juli 1944 gegen Hitler an. Nach dem Scheitern des Attentats wurde er verhaftet und neben den mutigen und ehrenhaften von Stauffenberg und von Trott hingerichtet. Halder, obwohl nicht an der Verschwörung beteiligt, wurde danach von Hitler inhaftiert, von den Amerikanern befreit und in Nürnberg als Zeuge der Anklage von der Strafverfolgung ausgenommen. Danach verbrachte er vierzehn bequeme Jahre als angesehener Leiter der deutschen Abteilung der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der U.S. Army. In dieser Rolle trug er dazu bei, den Kalten-Kriegs-Mythos von der »sauberen Wehrmacht« zu begründen, die nichts vom Holocaust gewusst habe und von einem wahnsinnigen Diktator in den Krieg getrieben worden sei. 1961, als die Abteilung aufgelöst wurde, verlieh ihm Präsident Kennedy die »Meritorious Civilian Service Medal«, die höchste Ehre, die ein Nichtamerikaner im dortigen Regierungsdienst erringen kann. Das Vorwort des Herausgebers zur amerikanischen Standardübersetzung von Halders Tagebuch, das in den späten achtziger Jahren veröffentlicht wurde, endet mit den Worten: »Er war ein hervorragender Soldat.« 29
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»Bis zu unserem letzten Herzschlag«
Um 18.55 Uhr am Abend des 8. September ging der Optiktechniker Dmitri
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