Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
Vom Netzwerk:
den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gegründet, war es rund vierzig Jahre später, mit Aufzügen, Luftglocken und Zentralheizung, neu gebaut worden. Den beiden Mädchen erschien es als »Elysium … Alles war teuer und von hoher Qualität – Möbel, Teppiche, Vorhänge, Geschirr … Die Duschen hatten auch heißes Wasser, und die Wäscherei, in der eine gleichgültige Dame uns unsere Kittel aushändigte, funktionierte weiterhin. Überall herrschten Ordnung und Sauberkeit.« Zuerst arbeiteten sie im unteren Stockwerk in den Küchen für einen riesigen, rothaarigen »Zaren« von einem Chefkoch, der jeden Morgen in zeremonielles Weiß gekleidet war und dessen Bauch beim Gehen hin und her schwankte. Im »Großen Restaurant« im Erdgeschoss bedienten schlanke tatarische Kellner mit pomadisiertem Haar und »theatralischen« Manieren die Leichtverwundeten. »Sie lehrten uns, die Tische zu decken und unsere ›Gäste‹ zu begrüßen. Gott bewahre uns, wenn wir Speisen auf kalten Tellern servierten.« Der Oberkellner bedachte die Mädchen mit Strafpredigten, die er nur zu gern mit den schockierendsten Schimpfwörtern würzte. »Bei den ersten Malen wussten wir nicht, wo wir hinschauen sollten. Mama sagte energisch: ›Kinder, tut so, als hättet ihr nichts gehört.‹« Obwohl man ihnen offiziell verboten hatte, im Gebäude zu übernachten, zogen sie in aller Stille ein und ließen sich auf einem Balkon über dem »östlichen« Speisesaal nieder. Er hatte eine gewölbte Decke, einen vage an Ägypten erinnernden Verputz und mächtige Buntglasfenster, geschmückt mit Wikinger-Langbooten, die unter den Mauern einer alten Rus-Festung einen Fluss entlangsegelten. Obwohl Marina täglich fünfzehn Stunden ohne Bezahlung arbeitete, erinnerte sie sich dankbar an das Hotel. »Unser Jewropa verbarg und beschützte uns und gab uns Zeit, Atem zu schöpfen.« 1
    Sobald Marinas Mutter Molotows Kriegsankündigung gehört hatte, befahl sie ihren Töchtern als Erstes, Seife zu kaufen und den Herd in Gang zu setzen, damit sie suchari herstellen konnte, jene Zwiebäcke, die auf langen Reisen und in Zeiten der Lebensmittelknappheit als traditionelle russische Reserve dienen. Andere taten das Gleiche, und als sich der Belagerungsring schloss, gab es, wie Marina berichtete, auf dem Markt nur noch Dörrobst und blanchierte Mandeln, in den Läden unerschwinglich teuren Kaviar und im Kaufhaus »Passage« nutzlose Spielsachen und Sportgeräte zu kaufen.
    1941 hatte ein fünfzigjähriger Russe bereits drei große Hungersnöte erlebt: die erste von 1891/92, als Dürre die Wolgasteppen heimsuchte, die zweite von 1921/22, verursacht durch Getreiderequirierung und den nachrevolutionären Bürgerkrieg, die dritte von 1932/33, als die Bolschewiki Bauernhöfe gewaltsam kollektivierten und dadurch ungefähr sieben Millionen Menschen zum Tode verurteilten. Leningrad, obwohl privilegiert in normalen Zeiten, war nun besonders verletzlich, da es stets Lebensmittelimporte aus dem fruchtbareren Süden benötigt hatte. Das von Sümpfen umgebene Dorf Mjasnoi Bor (»Fleischwald«, knapp nördlich von Nowgorod und Stätte einer katastrophalen Umzingelung im Frühjahr 1942) war nach den Rinderherden benannt, die dort auf dem Treck nach Norden zum Markt der Hauptstadt strauchelten. Obwohl die Kollektivierungshungersnot die Stadt weitgehend verschont hatte, waren zahlreiche Leningrader während des Bürgerkriegs in die Dörfer geflohen, um dort Nahrung zu suchen.
    Gleichwohl hatten sich die Leningrader Behörden kläglich schlecht auf die Belagerung vorbereitet. Als die letzte Straße aus der Stadt hinaus am 8. September gesperrt wurde, blieben geschätzte 2,8 Millionen Zivilisten im Belagerungsring gefangen – davon 2,46 Millionen in der Stadt und weitere 343000 in den umliegenden Orten. 2 Hinzu kamen weitere 500000 Soldaten und Matrosen, womit insgesamt rund 3,3 Millionen Menschen versorgt werden mussten. (Die Deutschen hatten die Leningrader Bevölkerung mit mehr als vier Millionen stark überschätzt, wahrscheinlich weil sie die aus den gefährdeten südlichen Vororten kommenden Familien für zusätzliche Flüchtlinge hielten. Folglich schätzten sie auch den Zeitpunkt, an dem in der Stadt der Hunger beginnen würde, falsch ein. 3 ) Am Tag der Isolierung Leningrads flog der stellvertretende Handelskommissar Dmitri Pawlow aus Moskau ein und machte eine Bestandsaufnahme der Lebensmittelvorräte in Lagerhäusern, Fabriken, Armeedepots und anderen

Weitere Kostenlose Bücher