Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
öffentlichen Einrichtungen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass die Bevölkerung beim damaligen Konsumniveau kaum länger als einen Monat überleben würde. Man besaß Getreide und Mehl für fünfunddreißig Tage, Buchweizen, Reis, Grieß und Makkaroni für dreißig Tage, Fleisch und Vieh für dreiunddreißig, Speiseöl und Fette für fünfundvierzig sowie Zucker und Süßigkeiten für sechzig Tage. 4 Flugzeuge für eine groß angelegte Luftbrücke standen nicht zur Verfügung (eine derartige Maßnahme wurde anscheinend nie in Erwägung gezogen), und obwohl die Leningrader Partei dreizehn Zugladungen Lebensmittel angefordert hatte, die vom Ladogasee mit Kähnen in die Stadt transportiert werden sollten, gab es an dem seichten und von Sandbänken durchsetzten westlichen Ufer des Sees keine Hafenanlagen, um sie entgegenzunehmen. (Erst am 9. September traf man die Entscheidung, Docks und Speicher in dem Datschendorf Ossinowez zu bauen. 5 ) Wenn die Blockade nicht rasch gebrochen wurde, musste Leningrad mit den existierenden Vorräten überleben.
Das Versäumnis, genug Nahrungsmittel und Treibstoff anzusammeln, bevor sich der Belagerungsring schloss, war auf die gleiche tödliche Mischung aus Leugnung, Desorganisation und Missachtung von Menschenleben zurückzuführen wie das Versäumnis, die überzählige Zivilbevölkerung zu evakuieren. Auch die effektivste und fürsorglichste Verwaltung hätte ernste Mängel nicht verhindern können – Notvorräte existierten nicht, die Züge waren überladen, die fruchtbarsten Regionen des Landes wurden überrollt –, doch Irrtümer, Durcheinander und vor allem die Realitätsverweigerung der Führer verschlimmerten die Situation unnötig. Aufschlussreich ist eine Geschichte, die Anastas Mikojan, Mitglied des Staatlichen Verteidigungskomitees und zuständig für Handel und Nachschub, in seinen Memoiren erzählt. In den frühen Kriegstagen war ein Konvoi aus Zügen mit Militärbedarf, der laut überholten Mobilisierungsplänen westwärts fuhr, nicht in der Lage, seine Ziele zu erreichen. Da Mikojan wusste, dass Leningrad auf Getreide aus dem Süden angewiesen war, befahl er, die Züge in die Stadt umzuleiten:
Fest überzeugt, die Leningrader würden froh sein über diese Entscheidung, hatte ich die ganze Geschichte vorher nicht mit ihnen abgestimmt. Auch I.W. Stalin wußte nichts davon bis zu dem Zeitpunkt, da A.A. Shdanow ihn aus Leningrad anrief und erklärte, alle Leningrader Lager seien vollgestopft, und man möchte ihnen doch außerplanmäßig keine Lebensmittel mehr liefern …
Damals hielt niemand von uns eine Blockade Leningrads für möglich. Deshalb gab Stalin mir Anweisung, den Leningradern über die mit ihnen vereinbarte Menge hinaus keine Lebensmittel mehr zu schicken. 6
Schdanow hatte Punkte für seinen Eifer gesammelt und sich gegenüber einem Rivalen behauptet: Die Züge fuhren anderswohin.
Auch als die Belagerung begonnen hatte, herrschten weiterhin Verwirrung und Selbstgefälligkeit. »Die Zuständigkeit für Lebensmittellieferungen«, erinnerte sich Pawlow,
lag bei zehn verschiedenen Wirtschaftsorganen. Da Anweisungen von ihren Hauptbüros in Moskau fehlten, verteilte jedes seine Produkte nach dem üblichen Verfahren … Mitte September telegrafierte die Zentralverwaltung der Zuckerindustrie in Moskau ihrer Leningrader Niederlassung, eine Reihe mit Zucker beladene Güterwagen aus Leningrad nach Wologda zu schicken, obwohl Leningrad seit dem 8. September blockiert war. Es gab viele ähnliche Fälle.
Obgleich vor Pawlows Ankunft in Leningrad die teuren »Kommerzläden« – im Juli eröffnet, um den beruhigenden Anblick gefüllter Regale zu bieten – bereits wieder geschlossen waren, verkaufte man in Kantinen und Restaurants weiterhin nicht der Rationierung unterliegende Produkte, die beträchtliche acht bis zwölf Prozent der gesamten Ausgaben an Öl, Butter, Fleisch und Zucker ausmachten. Auch die Herstellung von Bier und Eiscreme setzte sich fort, ebenso der Verkauf von Luxusartikeln wie Kaviar, Champagner und Kaffee. 7
Am offenkundigsten war das Versäumnis der Behörden, die Lebensmittellager über die Stadt zu verteilen und dadurch das Risiko durch Luftangriffe zu verringern. Das Ergebnis war das erschreckende Feuer vom 8. September in den Badejew-Lagern, von dem die Leningrader damals glaubten, es habe fast sämtliche Vorräte vernichtet – die Luft soll vom Geruch brennenden Schinkens und Zuckers durchsetzt gewesen sein –, und der Brand
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