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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Karten versprochenen Produkte wie Brot, Fleisch, Fett und Zucker ausgab, immer weniger nahrhaft. In Güterbahnhöfen aufgefundener Leinsamenkuchen, der normalerweise als Viehfutter diente, wurde zur Fertigung grauer »Makkaroni« verwendet. Man verarbeitete 2000 Tonnen Schafdärme aus den Hafenanlagen zusammen mit Kalbsleder aus einer Gerberei zu »Fleischgelee«, dessen Gestank durch Gewürznelkenöl nicht überdeckt werden konnte. Seit Ende November enthielt Brot neben zehn Prozent Leinsamen weitere zehn Prozent hydrolisierte Zellulose, die man durch einen Prozess, den Chemiker an der Forstakademie entwickelt hatten, aus Fichtenspänen gewann. Da sie keine Kalorien enthielt, hatte sie allein den Zweck, Gewicht und Masse zu erhöhen, damit die nominelle Brotration mit einer geringeren Mehlmenge geliefert werden konnte. Die Laibe, die in Blechformen gebacken werden mussten, damit sie nicht auseinanderfielen, waren schwer und feucht, besaßen eine lehmartige Konsistenz und einen bitteren, grasähnlichen Geschmack. Um einen Teil der zwei Tonnen Pflanzenöl zu sparen, mit denen die Backformen jeden Tag eingefettet wurden, ersann man eine Emulsion aus Wasser, Sonnenblumenöl und »Seifenstock«, einem Nebenprodukt bei der Verarbeitung von Speiseöl zu Treibstoff. Dadurch erhielten die Laibe, wie Pawlow zugab, eine seltsame Orangefarbe, »aber die Qualitätsmängel waren recht erträglich, und das gesparte Öl ging an die Kantinen«. 12
    Eine andere Erfindung der Forstakademie war ein »Hefeextrakt« aus fermentiertem Birkensägemehl, der in Scheiben an Betriebsküchen verteilt und, aufgelöst in heißem Wasser, als »Hefesuppe« serviert wurde.
    Jedes persönliche Schicksal während der Belagerung entschied sich am Rationierungssystem. Alle Krieg führenden Länder verfügten über ein solches System, und überall wurde es durch Korruption, Schiebereien und Betrug verfälscht. Doch im belagerten Leningrad verstärkten sich diese Mängel nicht allein durch die extremen Kriegsbedingungen, sondern auch durch die Brutalität und Unfähigkeit des Sowjetregimes. Auch die Konsequenzen vergrößerten sich. Anderswo führten schlechte Planung und kümmerliches Management zu bohrendem Hunger, langweiligen und kleinen Mahlzeiten, in Leningrad verursachten sie unzählbare zusätzliche Todesopfer.
    Speisen waren in der Sowjetunion stets ein Mittel zur Nötigung und zur Belohnung der Bevölkerung gewesen, und in Extremfällen dienten sie dazu, die Nutzlosen zu beseitigen und die Nützlichen am Leben zu erhalten. Wie Lenin 1921, mitten in der Hungersnot des Bürgerkriegs, vor einer Allrussischen Lebensmittelkonferenz erklärte:
    Es geht nicht nur darum, [Lebensmittel] gerecht zu verteilen, sondern die Verteilung muss auch als Methode, als Instrument, als Mittel zur Erhöhung der Produktion verstanden werden. Staatliche Unterstützung in Form von Nahrung darf nur jenen Arbeitern gewährt werden, die wirklich notwendig für die höchste Arbeitsproduktivität sind. Und wenn Lebensmittelverteilung als politisches Instrument benutzt werden soll, dann setzt es ein, um die Zahl derjenigen zu verringern, die nicht ganz und gar notwendig sind, und um diejenigen, die es sind, zu ermutigen. 13
    Diese Philosophie, charakterisiert durch die Parole »Du isst, wie du arbeitest«, wurde in den ersten sowjetischen Arbeitslagern, auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer, erprobt. Man teilte die Häftlinge in drei Gruppen: jene, die für Schwerarbeit geeignet waren, solche, die nur leichte Arbeit verrichten konnten, und Invaliden. Die erste Gruppe erhielt 800 Gramm Brot pro Tag, die zweite 500 und die dritte 400 Gramm. Wie erwartet, blieben die stärksten und relativ gut ernährten Gefangenen gesund, während die schwächsten, die sich mit der halben Ration begnügen mussten, noch mehr verfielen und starben. Das System, das (erfolglos) darauf abzielte, die Lager autark zu machen, wurde später im gesamten Gulag übernommen. 14
    Am anderen Ende der Skala diente die Ernährung dazu, die Hierarchie innerhalb des Establishments und des Parteiapparats zu kennzeichnen. »Geschlossene« Läden und Restaurants standen nur Parteimitgliedern oder Angestellten bestimmter Institutionen zur Verfügung, die Speiseangebote waren präzise abgestuft. In seinem epischen autobiografischen Roman Leben und Schicksal beschreibt der Kriegskorrespondent Wassili Grossman die sechs Menüs im Speisesaal des Physikinstituts der Moskauer Akademie der Wissenschaften:
    Es gab sechs

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