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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Frühwinter ernsthaft daran dachte, Leningrad aufzugeben. Für ihn stand die Verteidigung Moskaus im Vordergrund.
    Hitlers Plan für Moskau, mit dem Codenamen »Operation Taifun«, war in einer Führerweisung vom 6. September umrissen worden. 800000 Soldaten und drei Panzerarmeen mit über tausend Fahrzeugen sollten zwei große Zangenbewegungen im Westen und Süden der Stadt ausführen und die dortigen Sowjetarmeen einkreisen. Die Operation, die am 30. September begann, erreichte ihre ersten Ziele erstaunlich rasch. Die kleine Stadt Orjol, die ungefähr nach zwei Dritteln des Weges entlang der Hauptstraße von Kiew erreicht war, soll so hastig verlassen worden sein, dass deutsche Panzerbesatzungen die Fahrbahn mit friedlich dahinrollenden Straßenbahnen teilten. (»Warum haben Sie nichts über die heroische Verteidigung von Orjol geschrieben?«, fragte Wassili Grossmans Chefredakteur ihn wütend, nachdem der Korrespondent von einem Kurzbesuch an der Front zurückgekehrt war. »Weil es keine Verteidigung gab«, erwiderte Grossman.) Fünf Tage nach dem Beginn der Offensive entdeckte ein sowjetisches Aufklärungsflugzeug eine zwanzig Kilometer lange Panzerkolonne, die sich der Stadt Juchnow, zweihundert Kilometer nördlich von Orjol und nur noch hundertdreißig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, näherte. Die Nachricht war so unerwartet, dass der Pilot, der sie überbrachte, mit Verhaftung wegen »Provokation« bedroht wurde. Man schenkte ihm erst Glauben, als zwei weitere Maschinen die Meldung bestätigten.
    Am 6. Oktober wurde Schukow von Stalin aus Leningrad zurückberufen und mit der Verteidigung Moskaus betraut. Wieder fand Schukow eine Armee vor, die dem Kollaps nahe war. Verbindungslinien waren zusammengebrochen, und improvisierte Einheiten wurden aus Nachzüglern gebildet, die kleineren deutschen Umzingelungsaktionen entkommen waren. Von den 800000 Soldaten, welche die Zentralfront sechs Wochen vorher gehalten hatten, standen nur noch 90000 zwischen der Wehrmacht und der Hauptstadt. Tage später, während sich einberufene Zivilisten abmühten, einen neuen Schützengrabenring um die Moskauer Vororte anzulegen, lud Hitlers Pressesprecher das Berliner Pressekorps ins Propagandaministerium, wo eine Erklärung des Führers verlesen wurde: Die Reste der Roten Armee säßen nun in der Falle, der Sieg im Osten sei gesichert. Am folgenden Morgen brachten die Zeitungen Schlagzeilen wie: »Die große Stunde hat geschlagen!« und: »Feldzug im Osten entschieden!«
    In Moskau, wo das Donnern der Artillerie nun sogar auf dem Roten Platz zu hören war, beschloss man, die Regierung zu evakuieren. Das Präsidium des Obersten Sowjets, das Verteidigungskommissariat und die alliierten Botschaften wurden am 15. September mit Sonderzügen nach Kuibyschew an der Wolga (heute Samara) gebracht. Am folgenden Tag wirbelte die Asche einer Million hastig verbrannter Akten über die Bürgersteige, und Moskau verfiel in Anarchie. Die Polizei verschwand, Chefs und Vorgesetzte flüchteten in beschlagnahmten Lastwagen, die sie mit Gummibäumen und Grammofonen beladen hatten. Arbeiter, denen man die Fabriktore vor der Nase zugeschlagen hatte, plünderten und lynchten. Der Direktor einer Molkerei, der gerade abfahren wollte, wurde aus seinem Wagen gezerrt und kopfüber in einen Sahnebottich geworfen. Erst fünf Tage später war die Ordnung wiederhergestellt. Die gesamte unrühmliche Episode wurde als »großer drap « bekannt – ein spöttisches Wortspiel mit der Doppelbedeutung von drap (»Ordensband« und »abhauen«). 26
    Da Moskau am Abgrund stand, war die Preisgabe Leningrads wahrscheinlicher denn je. Der Widerwille hoher Generale, den Befehl über die Verteidigung der Stadt zu übernehmen, ließ erkennen, wie schlecht sie die Überlebenschancen einschätzten. Nach Schukows Abfahrt ging das Kommando zunächst an seinen Stellvertreter Iwan Fedjuninski über, doch dieser setzte sich sofort dafür ein, dass Michail Chosin, der dienstälter sei und unter dem er früher gedient habe, den Posten erhielt. 27 Chosin erhob Einspruch, er könne die 54. Armee, die er gerade von dem verhassten und inkompetenten Kulik übernommen hatte, nicht im Stich lassen. Daraufhin versuchte Schdanow, Marschall Nikolai Woronow für die Aufgabe zu gewinnen, einen geachteten Artilleristen und gebürtigen Leningrader, doch auch er lehnte ab, da er als stellvertretender Verteidigungskommissar bereits alle Hände voll zu tun habe.
    Nach zweiwöchigem Hin und Her

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