Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Situation weniger darum geht, Leningrad zu retten, als darum, die Armee der Lenfront in Sicherheit zu bringen.« 33
Moskau wurde auch noch im November Vorrang gewährt, als die Leningrader Zivilbevölkerung auf den Straßen zu sterben begann. Typisch ist ein Brief von Schukow an Schdanow vom 2. November. Die ersten Worte klingen vertraulich – »Meine Gedanken kehren häufig zu den schwierigen und interessanten Tagen und Nächten zurück, in denen wir gemeinsam arbeiteten und kämpften. Ich bedaure es sehr, die Angelegenheit nicht abgeschlossen zu haben, denn ich war überzeugt, es schaffen zu können« –, doch dann folgte der Pferdefuß: Die Generale der Zentralfront hätten »all ihre Soldaten vergeudet; von ihnen ist nichts als die Erinnerung übrig. Von Budjonny habe ich nur ein Hauptquartier und neunzig Mann erhalten; von Konew ein Hauptquartier und zwei Regimenter.« Könne Schdanow mit dem nächsten Luftkonvoi vierzig 82-mm- und sechzig 50-mm-Geschütze schicken, denn »Sie haben solche Waffen im Überschuss, während wir überhaupt keine besitzen«? 34 Dagegen wurden Schdanows Bitten um mehr Transportflugzeuge und um Lieferung von Lebensmittelkonzentraten spät oder gar nicht erfüllt. 35 »Sie haben uns vierundzwanzig Douglas-Maschinen zugewiesen«, erwiderte er auf eine weitere Forderung Stalins nach einem sofortigen, von Malenkow übermittelten Durchbruch. »Wo sind sie? Schicken Sie sie uns so schnell wie möglich.« 36
Insgesamt lieferten die Leningrader Fabriken der Zentralfront zwischen dem 1. Oktober und ihrer weitgehenden Schließung im Dezember 452 76-mm-Feldgeschütze mit über 29000 Panzergranaten und 1854 Mörser von unterschiedlichem Kaliber. Im Rückblick hätten sie vielleicht effektiver außerhalb Leningrads eingesetzt werden können. Bei Moskau vermochten sie nicht den Ausschlag zu geben, dagegen hätten sie südlich von Ladoga, wo die Deutschen am Seeufer nur ein fünfzehn Kilometer breites Gelände besetzt hielten, mehr bewirken können. Hätte die Rote Armee zu diesem Zeitpunkt einen sicheren Landweg aus der Stadt hinaus eingerichtet – ein Jahr bevor sie dies tatsächlich schaffte –, wären nicht nur Hunderttausende von Zivilisten vor dem Hungertod gerettet worden, sondern die Rüstungsfabriken der Stadt hätten auch, zum Nutzen sämtlicher sowjetischer Kriegsanstrengungen, ihre normale Produktion wieder aufnehmen können. Aber nach Lage der Dinge wurde Leningrad durch die massive Produktion in jenem Herbst lahmgelegt und der Mittel beraubt, entweder die Belagerung zu durchbrechen oder sie – außer um den Preis gewaltiger Verluste an Zivilisten – zu überleben.
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125 Gramm
Marina Jeruchmanowa, die neunzehnjährige Nachfahrin von Alexander Menschikow, einem Günstling Peters des Großen, war ebenso wie Olga Gretschina ein lerneifriges, behütetes Mädchen. In emotionaler wie sozialer Hinsicht bedeutete der Krieg für sie eine harte Ausbildung. Ihre erste Kriegsarbeit vollführte sie in einer »Konzertbrigade«, die Soldaten vor der Reise an die Front verabschiedete. »Die Bahndämme waren mit sitzenden oder liegenden Soldaten, teils in Gesellschaft schluchzender Verwandter, bedeckt. Und dann erschienen wir – vier kleine Mädchen mit Notenständern und Notenblättern – und spielten Quartette.« Sie hatte die Möglichkeit gehabt, sich mit dem Konservatorium nach Taschkent evakuieren zu lassen, war jedoch lieber bei ihrer Familie geblieben. Nach dem Beginn der Luftangriffe zogen alle in die sicherere Erdgeschosswohnung einer Tante: Vier Erwachsene, vier Kinder, vier Dackel und ein Baby drängten sich in einem Einzelzimmer. Der erste Todesfall des Haushalts ereignete sich Anfang Oktober, als Marinas Stiefvater, ein während der Säuberungen von 1937 unehrenhaft entlassener Marineoffizier, zwei Tage vor seiner Wiedereinsetzung einen Herzinfarkt erlitt. Die Familie konnte ein religiöses Begräbnis in der Verklärungskathedrale für ihn ausrichten und sein Grab mit einem großen Holzkreuz (das später als Feuerholz gestohlen wurde) markieren.
Marina und ihre jüngere Schwester Warwara verpflichteten sich als druschinnizy – freiwillige Helferinnen, überwiegend halbwüchsige Mädchen, die unter Leitung der Polizei häufig gefährliche Aufgaben übernahmen – am Arbeitsplatz ihrer Mutter, dem Hotel Europa, das nun als Lazarett diente. Das Hotel, ungefähr in der Mitte des Newski-Prospekts und als »Jewropa« bekannt – war das älteste und prächtigste in Leningrad. In
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