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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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gilt immer noch als Auslöser des schnellen Abgleitens in die Hungersnot. (»Es war der Zeitpunkt, als das Leben endete«, wie Marina Jeruchmanowa es ausdrückte, »und als das reine Existieren begann.«)
    Pawlow bestreitet in seiner sonst recht unpersönlichen Darstellung die Bedeutung des Feuers heftig. Die Lagerhäuser seien voll von Kisten mit alten Unterlagen und Ersatzteilen gewesen, und der Brand habe nur 3000 Tonnen Mehl und 2500 Tonnen Würfelzucker erfasst, von denen ein Großteil zu Süßigkeiten verarbeitet worden sei. Doch was die öffentliche Moral betraf, so war das Badejew-Feuer unzweifelhaft eine Katastrophe. »Kurz danach«, erinnerte sich Jeruchmanowa,
    wurden uns acht Kilogramm Linsen, etwas Krabbenfleisch in Dosen und ein paar andere Dinge ausgehändigt. Alle waren unzufrieden damit, dass man diese Zuteilungen nicht vor, sondern erst nach dem Feuer angeordnet hatte. Wahrscheinlich hätte es viel Mut gekostet, in jenen Tagen derartige Anweisungen zu geben. Aber warum hatten sie nicht genug Voraussicht? 8
    Zu den erfolgreicheren Initiativen der Leningrader Führung im Herbst 1941 gehörten ihre Bemühungen, Lebensmittel innerhalb des Belagerungsrings ausfindig zu machen und Speiseersatzstoffe zu ersinnen. Als Erstes versuchte man (was allerdings durch den Mangel an Transportmitteln behindert wurde), die Ernte aus der nicht besetzten Gegend im Osten und Norden der Stadt einzubringen. Für Landarbeiter (die keine Rationen erhielten) bedeutete dies einen fast so schweren Druck wie während der Kollektivierungshungersnot ein Jahrzehnt zuvor. Im November fiel zum Beispiel die Norm an Kartoffeln, die Landarbeiter behalten durften, auf 15 Kilo pro Person und Monat; der Löwenanteil musste den Requirierungsteams überlassen werden, die von den örtlichen Sowjet-Exekutivkomitees zusammengestellt wurden. Bauern, die ihre Kartoffeln versteckten, wurden »nach Kriegsgesetzen belangt« – mit anderen Worten, nicht spezifizierten strafrechtlichen Maßnahmen unterworfen. 9 Man kommandierte zusätzliche Erntehelfer aus der Stadt ab, die allerdings so viel wie möglich von der Ernte nach Hause schleppten. »Auf den Hauptstraßen und in den Vorortstraßenbahnen«, wurde in einer offiziellen Mitteilung vom 16. September geklagt, »sind Hunderte von Menschen mit Säcken und Körben zu beobachten … Die Unterlassung dringender Aktionen zur Beendigung dieser Anarchie wird dazu führen, dass die ganze Ernte Privatleuten in die Hände fällt.« 10 Durch eine Mischung aus Zwangskäufen, Beschlagnahme und »Spenden« blieb der Druck auf die Kolchosen während des ersten Belagerungswinters bestehen und brachte insgesamt 4208 Tonnen Kartoffeln und sonstiges Gemüse, Vieh, das 4653 Tonnen Fleisch lieferte, über 2000 Tonnen Heu, 547 Tonnen Mehl und Getreide sowie 179000 Eier ein. Drei Fünftel des Mehls und Getreides stammte aus den Privatbeständen der Bauern, ebenso mehr als ein Viertel des Viehs und über die Hälfte der Kartoffelmenge. 11
    In der Stadt mussten Einrichtungen, die Lebensmittel verarbeiteten und verteilten, ihre Gebäude nach vergessenen oder mangelhaften Vorräten absuchen lassen, um diese möglicherweise als Mehlersatz für die Brotherstellung abzugeben. In den Mühlen wurde Mehlstaub von Wänden und unter Dielen abgekratzt, Brauereien konnten mit 8000 Tonnen Malz aufwarten, und die Armee stellte den für die Pferde gedachten Hafer zur Verfügung. (Die Tiere erhielten stattdessen in heißem Wasser aufgeweichte und mit Salz besprenkelte Birkenzweige. Einen anderen Futterersatz aus gepressten Torfstücken und Knochenmehl rührten sie allerdings nicht an.) Getreidekähne, die nach Bombardements vor Ossinowez gesunken waren, wurden durch Marinetaucher geborgen, wonach man das Korn, das bereits zu keimen begann, trocknete und mahlte. (Das so entstandene Brot stank, wie Pawlow einräumte, nach Schimmel.) An den Docks entdeckte man große Mengen Leinsamenkuchen, die gewöhnlich in Schiffskesseln verbrannt wurden. Obwohl sie im Rohzustand giftig waren, ließen sich die Toxine bei hohen Temperaturen unschädlich machen, und auch die Leinsamen wurden für die Brotproduktion verwendet. Durch all diese Ersetzungen sowie durch Rationskürzungen sank der Leningrader Mehlverbrauch von täglich über 2000 Tonnen Anfang September bis zum 1. November auf 880 Tonnen.
    Als der Herbst in den Winter überging, wurden die Ersetzungen immer exotischer und die mit ihnen hergestellten Lebensmittel, die man anstelle der auf den

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