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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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verschiedene Essenskategorien – für Doktoren der Wissenschaft, leitende wissenschaftliche Mitarbeiter, wissenschaftliche Mitarbeiter, leitende Laboranten, technisches Personal und Hilfspersonal.
    Die größte Aufregung gab es um das Essen der ersten beiden Kategorien, die sich voneinander durch den dritten Gang unterschieden, Kompott aus Trockenobst oder Pudding. 15
    Ein anderer Journalist, ein britischer Kommunist namens John Gibbons, arbeitete während des Krieges für den Moskauer Rundfunk. Im Winter 1941/42, als die Nahrungsmittelknappheit überall in der Sowjetunion akut war, verärgerte ihn die Tatsache, dass sein Mittagessen am Arbeitsplatz aus trockenem Brot und aus Tee ohne Zucker bestand, während sein Chef, der im selben Büro saß, Schinken und Eier verspeiste. Obwohl er dies als Teil des Systems und als »zweifellos berechtigt« akzeptierte, war es gleichwohl »verdammt unangenehm, den Schinken und die Eier zu riechen . Umso mehr als der Chef dies für ganz normal hielt und mir nie auch nur ein Stück Schinken anbot.« 16
    Das Leningrader Rationierungssystem war dem des Gulag ähnlich. Obwohl offiziell »jeder nach seinen Bedürfnissen« versorgt werden sollte, reichte es in der Praxis (gerade) dazu aus, das Leben der für die Verteidigung der Stadt unerlässlichen Personen – Soldaten und Industriearbeiter – zu erhalten, während Büroangestellte, alte Menschen, Arbeitslose und Kinder zum Tode verurteilt wurden. Als man die Rationierung Mitte Juli einführte, wurden den Leningradern die gleichen Mengen zugeteilt wie den Moskauern: großzügige 800 Gramm Brot täglich für Handarbeiter, 600 Gramm für Büropersonal und 400 Gramm für Kinder und Arbeitslose, dazu ausreichend Fleisch, Fett, Getreide oder Makkaroni und Zucker. Erstaunlicherweise verringerte der Stadtsowjet die Rationen erst am 2. September, fast zwei Wochen nachdem die direkte Eisenbahnverbindung nach Moskau abgeschnitten worden war. Durch Pawlows Drängen folgte der ersten Reduzierung zehn Tage später eine zweite: auf 500 Gramm Brot für Handarbeiter, 300 für Büropersonal, 250 für Familienangehörige und 300 für Kinder. Zum Ausgleich wurden die Fett- und Zuckerrationen erhöht – im Rückblick ein schrecklicher Fehler. »Im Nachhinein«, gab Pawlow später zu, »könnte man sagen, dass in erster Linie die Fettration und auch die Zuckerration im September nicht hätten gesteigert werden sollen. Die rund 2500 Tonnen Zucker und 600 Tonnen Fett, die im September und Oktober verbraucht wurden …, wären im Dezember äußerst wertvoll gewesen.« Doch damals habe niemand geahnt, dass die Stadt so lange isoliert bleiben würde. 17
    Auf dem niedrigsten Stand, nach einer letzten Verringerung am 12. November, fielen die Rationen auf täglich 250 Gramm Brot für die 34 Prozent der Zivilbevölkerung, die als Handarbeiter eingestuft waren, und auf 125 Gramm (drei dünne Scheiben Brot) für alle anderen, außerdem auf lächerliche Mengen Fleisch und Fett. Für die Besitzer von Karten der unteren Kategorie waren dies offiziell 460 Kalorien pro Tag – weniger als ein Viertel der 2000 bis 2500 Kalorien, die ein Erwachsener durchschnittlich zur Beibehaltung seines Gewichts benötigt. Und sogar diese 460 Kalorien beruhten nur auf den offiziellen Angaben, denn in Wirklichkeit war Brot, wie wir erfahren haben, stark durch »Füllmasse« verfälscht, Fleisch gab es nicht, und an manchen Tagen wurden überhaupt keine Rationen ausgehändigt. Ernährungswissenschaftler, die später mit Hilfe von Überlebenden der Belagerung die langfristigen Konsequenzen von fötaler und kleinkindlicher Unterernährung erforschten, bezifferten die tatsächliche Menge, wenn man »Füllstoffe« berücksichtigt, eher auf täglich 300 Kalorien. 18 Hätte man die erste Kürzung vom 11. September nur sechs Tage vorher durchgeführt, wären, wie Pawlow einräumte, fast 4000 Tonnen Mehl gerettet worden, und die letzte Kürzung hätte vermieden werden können. 19
    Zudem waren die Zuteilungen tödlich durch ihre Undifferenziertheit, was ältere Kinder und Heranwachsende anging. Kinder unter zwölf Jahren gehörten sämtlich derselben Kategorie an, was bedeutete, dass ein Elfjähriger nicht mehr als ein Kleinkind erhielt. Zwischen zwölf und vierzehn Jahren wurden sie als »Angehörige« eingestuft, selbst wenn sie arbeiteten und obwohl sie wegen ihrer raschen Entwicklung mehr Kalorien als Erwachsene benötigten. Ein Kind, das zwischen den beiden Rationskürzungen vom 12.

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