Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
September und 1. Oktober zwölf Jahre alt wurde, erlebte sogar, dass seine Brotration von täglich 300 auf 250 Gramm sank. Die Klassifizierungen waren, wie Pawlow einräumte, »ungerechtfertigt«, doch »die Situation machte es unmöglich, sie besser zu ernähren«. 20 Ebenso unfair als »Angehörige« wurden nicht erwerbstätige Mütter behandelt, welche die Last auf sich nahmen, vor Brotläden Schlange zu stehen, um Waren zu feilschen und Brennstoff und Wasser nach Hause zu schleppen. Bezeichnenderweise erhielten »Angehörige« auch weniger Bedarfsartikel, etwa nur eine Schachtel Streichhölzer, nicht zwei wie die Arbeiter. Der Spitzname für die Angehörigenkarte lautete smertnik (»jemand, der dem Tod geweiht ist«). 21
Die Übergabe der Rationen von Produktiven an Unproduktive wurde dadurch verhindert, dass Arbeiter keine Lebensmittel mit nach Hause zu ihren Familien nehmen durften. Eine Militärärztin hatte in das Lazarett, in dem sie arbeitete, ziehen müssen. Sie hatte ihre alte Mutter allein zurückgelassen und bat um Erlaubnis, einen Teil ihrer eigenen, relativ großzügigen Ration zu Hause zu verwenden. Der Antrag wurde abgelehnt, doch es gelang ihr, der Mutter durch einen Pfleger ein paar Nahrungsmittel zukommen zu lassen. »Ich musste dem Kommissar Bericht erstatten«, schrieb sie später, »und er versuchte, mir einzureden, ich hätte kein Recht, auf Nahrung zu verzichten und meine Gesundheit zu untergraben. Ich widersprach ihm nicht, erklärte jedoch, dass ich keine andere Wahl hatte, denn es sei meine heilige Pflicht, meine Mutter zu retten.« 22 Hier wurden die Vorschriften, wie an vielen Arbeitsplätzen, nicht strikt durchgesetzt, doch anderswo durchsuchte man die Taschen der Beschäftigten, wenn sie das Gebäude verließen.
Immerhin duldeten die Behörden ein paar Ausnahmen von ihrem brutalen Utilitarismus. Als Schdanow hörte, dass viele bejahrte Wissenschaftler dem Tod nahe seien, soll er persönlich angeordnet haben, dass die städtischen Handelsorganisationen eine Liste der prominentesten Gelehrten anfertigten und zusätzliche Lebensmittelpakete schickten. 23 Eine Nutznießerin war die Künstlerin Anna Ostroumowa-Lebedewa, die am 20. Januar 1942 ihre Tür öffnete und zu ihrem Erstaunen eine Frau in weißem Kittel vor sich sah. Die Besucherin hatte eine mit Butter, Fleisch, Hefe, Zucker und getrockneten Erbsen gefüllte Kiste bei sich. »Das ist Genosse Schdanow zu verdanken«, schrieb Ostroumowa-Lebedewa in ihrem Tagebuch, »denn er hat mein Alter bemerkt und es übernommen, mir Lebensmittel zu schicken. Ich schätze, dass die Menge ungefähr dem entspricht, was man in einem Monat mit einer Arbeiterkarte erhalten würde.« 24 Sie und ihr Dienstmädchen Njuscha konnten zehn Tage von der Sendung leben, aber dies milderte ihre kritische Einstellung gegenüber dem System nicht. Die Angehörigenkarte war ihrer Meinung nach ein Todesurteil und eine »Schande«, die den Zweck hatte, Leningrad von alten Menschen und Hausfrauen – »überflüssigen Mäulern« – zu befreien. 25
Die unvermeidlich größte Schwäche des Rationierungssystems war seine Anfälligkeit für Korruption. In den am stärksten romantisierten sowjetischen Darstellungen ist davon keine Rede; vielmehr wird die gesamte Bevölkerung, abgesehen von ein paar schwachen Menschen und Saboteuren, so dargestellt, als habe sie dem Feind treu und selbstlos Widerstand geleistet. Auch in den realistischeren Berichten, etwa dem Pawlows (in der Zeit von Chruschtschows kurzlebigem »Tauwetter« veröffentlicht), wird das Ausmaß erheblich untertrieben. Während die Autoren detailliert auf die Maßnahmen eingehen, mit denen Gaunereien und Fälschungen von Lebensmittelkarten durch die allgemeine Bevölkerung verhindert wurden, beschönigen sie Diebstähle und Bestechlichkeit innerhalb des Verteilungsnetzes. Obwohl »Egoisten« und »Heuschrecken« versucht hätten, das System zu schwächen, gelangte Pawlow zu dem Schluss:
… die von der städtischen Parteiorganisation ergriffenen Schritte ermöglichten es, die Bevölkerung vor Spekulanten, Schwindlern und »Schmarotzern« zu schützen. Das Vertrauen der Bewohner in das etablierte System der Lebensmittelverteilung wurde aufrechterhalten. Es gab wenig Nahrung, doch jeder Einzelne wusste, dass seine Ration an keinen anderen weitergeleitet werden würde. Er würde erhalten, was er erhalten sollte. 26
Dieses Bild ist, wie aus privaten und amtlichen Unterlagen hervorgeht, viel zu rosig. Die
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