Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
fröhlich und lebhaft blieb und dem Hofmeister »half«, Feuerholz zu hacken und Schnee zu schaufeln, reichte nicht einmal die Arbeiterration für den heranwachsenden Dima aus:
Er hat es aufgegeben, sich für irgend etwas zu interessieren, zu lesen oder gar zu sprechen. Es ist fast nicht zu glauben, aber selbst die Bombardierungen lassen ihn kalt. Das einzige, das ihn aus dieser Teilnahmslosigkeit herausbringt, ist das Essen. Er ist den ganzen Tag hungrig, kramt in den Schränken und sucht etwas zu essen. Findet er nichts, fängt er an, Kaffeesatz oder den entsetzlichen Ölkuchen zu kauen, den früher nur Kühe fraßen …
Noch Ende August und im September ging er in der ganzen Stadt umher, spürte Lebensmittel auf, interessierte sich für die Kriegsberichte, traf sich mit seinen Freunden. Jetzt ist er ein richtiger Sonderling, der ewig friert. Ganze Tage lang steht er in einer wattierten Jacke am Ofen, blaß, mit tiefen blauen Schatten unter den Augen. Wenn das so weiter geht, wird er sterben. 5
Auch eine weitere Beschäftigung, die Skrjabinas Mann organisierte, konnte keine Abhilfe schaffen. Als Bote für ein Krankenhaus wurde Dima kreuz und quer in der stechenden Kälte durch die Stadt geschickt und dann um die ihm versprochene Abendmahlzeit betrogen. Die Büfettchefin des Krankenhauses, tobte Skrjabina, sei eine Betrügerin: »Nur wenn er zusammen mit dem Sohn des Hospitalleiters kommt, kriegt er alles – sogar ein Kotelett. Nicht ohne Grund ist dieser Junge so rotwangig und wohlgenährt.« Am 15. Dezember, nachdem Dima auf der Straße zusammengebrochen war, übermannte ihn die Erschöpfung: »Dima hat sich endgültig ins Bett gelegt. Er liegt da und schweigt, den Kopf im Kissen vergraben. Jetzt steht er auch nicht mehr auf, um in den Schränken oder im Büffet Eßbares zu suchen. Vielleicht ist er überzeugt, daß nichts mehr da ist, vielleicht hat er aber auch keine Kraft mehr dazu. Ich habe Angst, daß er sterben wird. Wie soll er den Hunger aushalten, wo er doch so groß, so mager, so unglaublich hilflos ist …« 6 Kaum mehr als vier Monate vorher hatte Skrjabina noch mit ihren Jungen im Park des Katharinenpalasts gespielt, nun musste sie mitansehen, wie der ältere schlicht aus Unterernährung dahinsiechte.
Olga Gretschina wohnte mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Wolodja (kurz: Wowa) in einem grau gestrichenen, übertrieben schmuckvollen Villenblock in der Mitte der Majakowski-Straße, eines der schäbig-imposanten Boulevards, die vom Newski abgingen. Ihr Vater, ein Arzt, war ein paar Jahre vorher gestorben, und ihr älterer Bruder Leonid hatte zur Armee einrücken müssen. Im Oktober konnte sie, nachdem sie vom Grabenausschachten freigestellt worden war, Leonid in einem Dorf bei Schlüsselburg besuchen, wo man ihn mit seiner Mörserbatterie einquartiert hatte. Dort machte er sie mit seiner neuen Verlobten bekannt, einer Sanitäterin, die Olga für ungeeignet hielt. Denn die Verlobte bestand darauf, dass alle drei »mit den Köpfen dicht nebeneinander und in der besten Dorftradition lächelnd« fotografiert wurden, und schien von nichts anderem als Vorhängen sprechen zu können. Leonid und seine Kameraden waren guten Mutes, da sie es geschafft hatten, der Kingissepp-Umzingelung zu entkommen. Aber sie hatten weder Brot noch Zucker, und ihre abgemagerten Pferde kauten mit riesigen gelben Zähnen an der Holzveranda, an der man sie angebunden hatte. Auch fehlte der Einheit Munition. »Jede Batterie erhält fünf Granaten. Wenn sie abgeschossen werden, erwidern die Deutschen das Feuer und setzen es vierundzwanzig Stunden lang fort, doch wir können nicht zurückschießen.«
Kurz nach Olgas Rückkehr wurde ihre Mutter in Leningrad während der Verdunklung von einem Auto angefahren. Zwar war sie nur leicht verletzt, doch sie verfiel rasch und musste bei Luftangriffen auf dem Weg ins Untergeschoss gestützt werden. Auch ließ sie sich nicht davon abbringen, ihre Ration mit dem Hund der Familie, einem von allen geliebten »Wollknäuel« namens Kaschtanka, zu teilen. Deshalb war Olga fast erleichtert, als das Tier gestohlen wurde – zum Verzehr, wenn die Gerüchte stimmten. Das informelle System der gegenseitigen Begünstigung – blat im Sowjetslang –, durch das Russen mit der Mangelversorgung und der Bürokratie fertig wurden, brach nun, wie Olga entdeckte, allmählich zusammen. Um Medikamente für ihre Mutter zu besorgen, wandte sie sich an einen früheren Kollegen ihres Vaters, Dr. Michailow.
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