Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
die Körper der Leningrader waren geschwächt, sondern auch die Lebensadern der Stadt selbst. Im Oktober wurde in den Kraftwerken der Brennstoff knapp, und die Stromversorgung brach ein. Die Oberleitungsbusse waren längst für den Krankentransport requiriert worden, und nun blieben auch die Straßenbahnen irgendwo auf der Strecke stehen und wurden von Frost und Eiszapfen überzogen. Ihr Ausfall »stellte die Realität der Stadtentfernungen wieder her«, wie Ginsburg schrieb, denn die Straßen und besonders die dem Wind ausgesetzten, ungeschützten Newa-Brücken schienen länger zu werden. Der Schnee wurde nicht mehr geräumt, und nur noch die Hauptstraßen waren passierbar. Überall sonst musste man sich mit schmalen Trampelpfaden zufriedengeben, die auf neuen Abkürzungen durch Trümmergrundstücke und die Überreste von Zäunen führten, deren Latten als Brennholz gestohlen worden waren. Das Flickwerk aus Zeitungs- und Einwickelpapier, Brettern und Sperrholz, das die Fenster von Wohnhäusern bedeckte, verlor den seltsamen Frohsinn, den es zu Kriegsbeginn gehabt hatte, nun wurden die vernagelten Fenster »zum Zeichen der lebendig Begrabenen und der in der Enge Sterbenden«. 8
Seit dem 27. November war es in Wohnhäusern verboten, zwischen 10 und 17 Uhr Strom zu benutzen, der ohnehin nur noch unregelmäßig oder überhaupt nicht mehr geliefert wurde. Um Licht und Wärme zu erhalten, wandten sich die Leningrader stattdessen Technologien zu, die eher auf dem Land gebräuchlich waren. Verschiedene hausgemachte Lampen wurden ersonnen: etwa eine improvisierte Sturmlaterne namens »Fledermaus« und die koptilka (»Räucherlampe«, bestehend aus einem Docht in einem Fläschchen, in einer Blechtasse oder in dem umgedrehten Deckel eines Wasserkessels). Sie brannten so unsauber, dass Gesichter, Hände und Wände von einem klebrigen schwarzen Ruß überzogen wurden. Als das Petroleum ausging – die letzten zweieinhalb Liter pro Person wurden im September verteilt –, verbrannte man Kampfer, Fleckenentferner, Maschinenöl, Kölnischwasser und Insektizid. Rasch verschwanden diese Brennstoffe aus den Läden und wurden zu immer astronomischeren Preisen auf den Straßenmärkten verkauft. Der zweite lebenswichtige Bestandteil der Blockadeausstattung war der Kanonenofen, der als burschuika bezeichnet wurde und dessen Rohr durch ein mit Brettern oder einem Kissen abgedichtetes Oberlicht nach draußen führte. Der Ofen wurde mit Holz von Trümmergrundstücken, mit Möbeln (auf den Straßenmärkten waren in Stücke gehackte Kleiderschränke teurer als intakte), Grabkreuzen, Büchern und ehemaligen Parkettböden betrieben. Die tatarische Frau des Akademie-Heizers riet Georgi Knjasew, getrockneten Kot zu verwenden, wie es in der Steppe Brauch sei. Der Spitzname burschuika – nach dem russischen Wort für »bourgeois« – leitete sich entweder von der rundlichen Form der Öfen oder ihrer Habgier nach Brennholz oder von der Tatsache her, dass sie während des Bürgerkriegs von der alten Mittelschicht benutzt worden waren. (Die Metallverarbeitungsgeräte zur Herstellung von burschuiki wurde laut einer Verbrechensstatistik vom Januar 1942 aus Fabriken gestohlen und auf dem Schwarzmarkt weiterverkauft.) Das dritte – vom heutigen Standpunkt aus für die Blockade besonders symbolische – Hilfsmittel war der Kinderschlitten ( sanki ), mit dem man Feuerholz, Wasser und schließlich Leichen transportierte.
Zudem mussten die Leningrader Fertigkeiten des Landlebens erlernen. Sie erfuhren, dass Birkenholz gut und Espenholz schlecht brannte, dass getrocknete Ahornblätter als Tabakersatz dienen konnten und dass es möglich war, daraus und aus Zeitungspapier gerollte Zigaretten anzuzünden, indem man eine Linse in die Sonne hielt oder mit Metall auf Stein schlug. Seltsamerweise versuchte kaum jemand eiszufischen, wahrscheinlich weil die erforderlichen Schnüre und Bohrgeräte fehlten. Der Theaterproduzent Alexander Dymow hatte das Gefühl, in einer Zeitmaschine zu sitzen. Die Blockade hatte Leningrad ins achtzehnte Jahrhundert zurückgeworfen, doch es war noch schlimmer: Die Menschen besaßen keine Pelzmäntel mehr, die Brunnen an jeder Straßenecke waren verschwunden, und Wasser musste in Kesseln statt mit Eimern und mit Tragejochs geholt werden. 9 In den meisten Wohnhäusern versagte die Wasserversorgung nach und nach, beginnend mit dem obersten Stockwerk. Wenn der letzte Hahn einfror, wandten sich die Bewohner zuerst Nachbargebäuden, dann
Weitere Kostenlose Bücher