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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Menschen)«:
    Aber es gab noch immer die gleichen, traditionellen Typen von Sekretärinnen.
    Zum Beispiel den unter Verwaltungsangestellten ziemlich verbreiteten sadistischen Typ. Das ist die boshafte Sekretärin … Setzt man sie … auf eine Stelle, wohin die Menschen kommen, wenn sie ihre Karte verloren haben, so spricht sie laut und in einem ausgemacht abweisenden Tonfall mit ihnen, wobei sie den Triumph der Verwaltung kaum unterdrückt.
    Daneben gibt es auch die verträumte Sekretärin – man sieht ihrer Kleidung die Blockade noch nicht an – mit ihren schönen, noch immer mit Lidschatten geschminkten Augen. Sie hängt ihren eigenen Gedanken nach. Sie schaut den Menschen gutmütig an, dabei ist es ihr einziger Wunsch, sich den Störenfried schleunigst vom Hals zu schaffen, und ihre Ablehnung kommt träge und sogar ein wenig klagend (sie beklagt sich über die Störung). Schließlich gibt es noch den Typ der sachlich-nüchternen Frau … Ihre Ablehnung ist majestätisch, aber ausführlich, gespickt mit Belehrungen und Begründungen. Und obwohl ihr einziges Interesse dem gilt, was sie selbst sagt, wird es dem Menschen, der ohne seine Lebensmittelkarten höchstwahrscheinlich nur noch ein paar Tage zu leben hat, einen Augenblick lang leichter ums Herz. 30
    Ebenfalls im Dezember verfügte man, dass Karten nur in vorher festgelegten Geschäften eingelöst werden konnten. Da manche Läden deutlich besser waren als andere, mussten die Lenigrader einen weiteren Kampf auf Leben und Tod mit der Bürokratie ausfechten, um sich in dem Geschäft der eigenen Wahl registrieren zu lassen. (Dem Tagebuchschreiber Iwan Schilinski, der an seiner lokalen Verkaufsstätte Nr. 44 verzweifelte – unehrlich geführt und überlaufen von »randalierenden Großmüttern« –, gelang es, zu einem besser organisierten »Gastronom« überzuwechseln, indem er den Geschäftsführer mit seiner Pelzmütze bestach. 31 )
    Trotz allem: Kein Rationierungssystem hätte die gesamte Bevölkerung von Leningrad tatsächlich retten können. Zu viele Münder mussten gefüttert werden, und der Lebensmittelvorrat war zu klein. Auch war das System kein komplettes Debakel, denn immerhin gelang es, Nahrungsmittel unter Bedingungen zu sammeln und zu verteilen, die auch einen vollständigen sozialen Zusammenbruch hätten nach sich ziehen können. Andererseits gab es unzweifelhaft schwere und vermeidbare Mängel, die unzählige Opfer kosteten. Im Lauf der Belagerung wurde es zu einer der häufigsten Betrügereien, den Tod von Verwandten zu verbergen, um ihre Lebensmittelkarte bis zu deren Erlöschen am Monatsende benutzen zu können. Auf diese Weise konnten Ehemänner, wie Schilinski über seine Nachbarn in einem aufgeteilten Holzhaus im nördlichen Vorort Nowaja Derewnja verzeichnete, ihren Witwen und Kindern posthum »Leben spenden«. »Sie werden bis Monatsende in der Kälte aufbewahrt«, schrieb er Ende Januar 1942, »und liefern Brot mit Hilfe ihrer Karten. Das geschah mit Serebrjannikow und Ussatschow, die beide im Schuppen verwahrt werden – genauso Syropatow und Fjodorow. Es spielt sich überall in der Stadt ab – so viele mehr sind tot, doch verborgen.« 32

 
    9
    Sturz in den Trichter
    Im September hatten sich ruhige, goldene Tage mit Herbststürmen abgewechselt, und im Oktober ging der Altweibersommer zu Ende. Der erste Schnee fiel ungewöhnlich früh, am 15. Oktober, eine Eisschicht überzog die Kanäle. 1 Georgi Knjasew, der jeden Morgen in seinem Rollstuhl an der Uferstraße der Wassiljewski-Insel entlangfuhr, erlebte, wie sich die militärische Geschäftigkeit, die in seinen »kleinen Radius« vorgedrungen war, wieder verflüchtigte. Die Reihen marschierender Matrosen, Helme an Rucksäcke geschnallt, verschwanden ebenso wie die dahinrasenden, mit Schlamm bespritzten Armeelastwagen und die Soldaten, die mit ihren Pferden auf dem Gras des Rumjanzew-Platzes gelagert hatten. Artilleriebeschuss hatte die Straßenbahn-Oberleitungen an der Nikolaus-Brücke beschädigt, und ein Kriegsschiff, dessen drei Schornsteine mit weißer Wintertarnfarbe bemalt waren, versperrte die Sicht auf das Senatshaus. Ein Laster, dem zwei Räder fehlten, ruhte auf Bremsklötzen neben den immer noch nicht mit Sandsäcken bedeckten Luxor-Sphinxen. Die Sphinxe kamen Knjasew wie »arme, kleine Hündchen vor, die nackt und bloß der grausamen Kälte ausgesetzt sind«. 2
    Von September bis Ende Dezember 1941 stürzten die Leningrader, wie es der Historiker Sergej Jarow

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