Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Leningrader erhielten nicht das, was sie erhalten sollten – im Gegenteil, sie standen stundenlang in Dunkelheit und Kälte Schlange, nur um häufig viel weniger als die ihnen gebührende Ration – oder sogar überhaupt nichts – zu bekommen. Auch empfanden sie das System keineswegs als fair: Jeder Tagebuchautor klagt über korrupte Vorgesetzte und wohlgenährte Kantinenarbeiter und Ladenmädchen; jeder schildert, wie er möglichst Zusatzrationen ergaunerte und mit ihnen auf dem Schwarzmarkt handelte.
Auch die Parteiakten sind voll von Korruptionsfällen. Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Petrograder Bezirkssowjets, heißt es abschätzig in einem Dokument, hätten, statt »eiserne Ordnung aufrechtzuerhalten«, regelmäßig unerlaubte Lebensmittellieferungen für den eigenen Bedarf und für Kollegen organisiert. »Genosse Iwanow verwandelte sein Büro außerdem in ein Schlafzimmer für sich selbst und seine Kollegin, Genossin Wolkowa, womit er sich der Anklage aussetzt, sexuelle Beziehungen mit einer Untergebenen gehabt zu haben.« 27 Ähnliches spielte sich im Parteikomitee des Primorski-Bezirks ab, wo zwölf seiner Mitglieder, angeführt vom Ersten Sekretär und dem Vorsitzenden des Bezirkssowjets, Sonderzustellungen direkt von der örtlichen Kantinenverwaltung empfingen. »Vor den Festlichkeiten am 7. November [Tag der Revolution]«, berichtete ein NKWD-Ermittler,
belieferte die Kantinenverwaltung das Bezirkskomitee mit zehn Kilo Schokolade, acht Kilo Kaviar und verschiedenen Konserven. Am 6. rief das Komitee bei der Verwaltung an und forderte mehr Schokolade … Insgesamt wurden im November Lebensmittel im Wert von 4000 Rubeln unterschlagen … Kantine Nr. 13 hielt Zigaretten für sämtliche Komiteemitglieder – 1000 Päckchen – bereit, doch Sekretär Charytonow befahl der Kantine, sie nicht auszuhändigen, wobei er sagte: »Ich werde sie alle selbst rauchen.«
Nikita Lomagin, der Historiker, der sich am gründlichsten mit dem Petersburger Sicherheitsdienstarchiv befasst hat, merkt an, dass der Bericht erst Ende Dezember vorgelegt wurde, woraus zu schließen ist, dass die Polizei sich vorher ebenfalls bereichert hatte. Zudem habe keiner der beteiligten Parteifunktionäre sein Amt verloren. 28
Statt unehrliche Funktionäre zu bestrafen, versuchte die Parteiführung in erster Linie, die Öffentlichkeit an Mogeleien zu hindern. Eine von Pawlows ersten Aktionen bestand darin, gegen die Verwendung nichtautorisierter oder vervielfältigter Lebensmittelkarten einzuschreiten. Das Meldesystem war, wie er bei seiner Ankunft in der Stadt im September bemerkte, der enormen Bevölkerungsbewegungen der vergangenen zwei Monate nicht Herr geworden, so dass manche Leningrader Karten im Namen von Freunden und Verwandten beantragen konnten, die in die Evakuierung oder an die Front gezogen waren. Durch strengere Kontrollen und Geldstrafen sank die Zahl der im Oktober ausgestellten Karten auf 2,42 Millionen – ein Rückgang von 97000 gegenüber dem Vormonat. Dies reichte nicht aus, weshalb der Stadtsowjet am 10. Oktober einen von Schdanow vorgeschlagenen Erlass verabschiedete, der die nochmalige Beantragung sämtlicher Karten vorsah. Zwischen dem 12. und 18. Oktober mussten die Leningrader ihre Identität in Hausverwalterbüros oder am Arbeitsplatz nachweisen, wofür sie einen »Neuzulassung«-Stempel auf ihrer Karte erhielten. Ungestempelte Karten wurden danach bei der Vorlage konfisziert. So beschnitt man die Zahl der in Umlauf befindlichen Brotkarten um weitere 88000, der Fleischkarten um 97000 sowie der Öl- und Butterkarten um 92000.
Sofort erhöhte sich die Zahl der Anträge auf Ersatzkarten. Sämtliche Bewerber erzählten laut Pawlow »mehr oder minder die gleiche Geschichte: ›Ich habe meine Karten verloren, während ich Schutz vor Bombenabwürfen oder Artilleriebeschuss suchte‹ … Oder, wenn ihr Gebäude zerstört worden war: ›Die Karte war in meiner Wohnung, als das Haus getroffen wurde.‹« 29 Im Gegenzug befahl man, Ersatzkarten nur durch das zentrale Lebensmittelkartenbüro ausstellen zu lassen, und dann auch nur in den am besten belegten Fällen. So entwickelte sich das Antragsverfahren für die Bewerber von dem vertrauten, öden Gerangel mit kleinlicher Bürokratie buchstäblich zu einem Kampf ums Überleben – zu einer »unheimlichen Verbindung«, wie Lidia Ginsburg es ausdrückte, »der alten (amtsüblichen) Formen mit einem neuen Inhalt (dem Hungertod eines
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