Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
ausdrückte, »in den Trichter«. Im Lauf von drei Monaten wurde aus der vertrauten Erscheinung der Stadt – äußerlich hatte sie vieles mit London während der Bombenangriffe gemeinsam – ein an Goya gemahnendes Schlachtfeld. Gebäude brannten tagelang, ohne dass sich jemand um sie kümmerte, ausgezehrte Leichen lagen verstreut auf den Straßen. Für die Bürger führte die sich beschleunigende Abwärtsspirale von einem relativ »normalen« Kriegsleben – Störungen, Mängel, Luftangriffe – zur hilflosen Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod von Ehemännern, Ehefrauen, Vätern, Müttern und Kindern und natürlich auch mit dem eigenen.
So rasch vollzog sich der Übergang, so unwirklich war die Kulisse, dass unbestätigte Nachrichten von Hungertoden zunächst ungläubig aufgenommen wurden. Lidia Ginsburg schrieb ihre forensischen Erinnerungen an die Belagerung aus der Sicht eines anonymen, etliche Personen vertretenden »Blockademenschen«. Für diesen Menschen gehörte Hunger »wie Kamele und Fata Morganen« in die Wüste, und es erschien ihm undenkbar, »daß die Bewohner einer Großstadt vor Hunger sterben könnten«. Aber »schließlich war eine Zeit gekommen, in der es schlechterdings unmöglich war, nicht zu verstehen … Über die ersten Todesfälle im Bekanntenkreis dachten die Menschen noch nach (und ich kannte ihn doch? am hellichten Tag? in Leningrad? ein Kandidat der Wissenschaften? verhungert?)« 3
Jelena Skrjabina, deren erste Reaktion auf die Kriegsnachricht darin bestanden hatte, sich zu einem Spottpreis ein Ferienhäuschen zu mieten, fand den Gedanken an einen möglichen Hungertod ebenfalls »entwürdigend und absurd«. Obwohl sie für vier Personen verantwortlich war – ihre Mutter, zwei Söhne und ein altes ehemaliges Kindermädchen –, kehrte sie erst Mitte August in die Stadt zurück und begann deshalb sehr spät, Lebensmittelvorräte anzulegen. Am 15. September unternahm sie einen Ausflug an den Stadtrand, um mit Dorfbewohnern Tauschhandel zu treiben. »Ich hatte Papirosen [Zigaretten], ein Paar Stiefel von Sergej und Damenstrümpfe mit: Überall muß man auf die Leute einreden, buchstäblich betteln. Die Bauern werden überhäuft mit den herrlichsten Sachen. Sie wollen nicht einmal mehr mit einem sprechen.« Ein paar Tage später gelang es ihr, nachdem sie in einer endlosen Schlange gestanden hatte, Wodka zu kaufen: »In einem Dorf traf ich auf eine alte Trinkerin, die bereit ist, für dieses Gesöff eine beträchtliche Menge Kartoffeln zu geben. Ein Glück, daß es solche alte Weiber überhaupt noch gibt.« 4 Eine andere glückliche Begegnung war die mit einem tatarischen Hausierer, der ihr Schokolade und Pferdefleisch gegen Bargeld (»ein vollkommen unwahrscheinliches Ereignis in unseren Tagen, weil das Geld jetzt schon fast wertlos ist«) und eine Flasche Rotwein verkaufte. Nicht all ihre Nachbarn, notierte sie Anfang Oktober, waren so erfolgreich:
Die Menschen verrohen buchstäblich vor unseren Augen. Wer hätte gedacht, daß Irina, bis vor kurzem noch eine so ruhige, schöne Frau, fähig wäre, ihren Mann zu schlagen, den sie stets vergöttert hat? Weshalb? Weil er unentwegt nur essen will und überhaupt nicht sattwerden kann. Er liegt bloß auf der Lauer, bis es ihr gelingt, etwas zu essen aufzutreiben. Kaum betritt sie die Wohnung, fällt er schon über das Essen her …
Den deprimierendsten Eindruck in unserm Haus macht die Familie Kurakin. Seitdem er aus der Verbannung zurück ist, ausgemergelt durch die Jahre im Kerker, beginnt er jetzt krankhaft anzuschwellen. Es ist ganz entsetzlich. Von der früheren Liebe seiner Frau ist kaum noch ein Fünklein übriggeblieben. Sie ist ständig gereizt und streitsüchtig. Die Kinder weinen, sie wollen etwas zu essen und kriegen statt dessen eine auf den Hintern.
Die Kurakins bilden jedoch keine Ausnahme. Fast alle Leute haben sich durch den Hunger, die Blockade und die ausweglose Lage bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Zwei Rettungsanker bewahrten Skrjabinas Familie davor, den gleichen Weg gehen zu müssen. Der erste war ein Passierschein für die Ingenieurskantine ihres Mannes, von wo sie alle zehn Tage acht Portionen Suppe und vier Portionen Haferbrei in Blechkannen nach Hause bringen konnte; der zweite war ein fiktiver Arbeitsplatz, arrangiert von einem Freund, für ihren fünfzehnjährigen Sohn Dima, durch den der Junge die Ration eines erwachsenen Arbeiters erhielt. Doch während ihr jüngerer Sohn, der fünfjährige Jura,
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