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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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gebrochenen Rohren und Eislöchern zu, welche die Feuerwehr in die vereisten Flüsse und Kanäle gehackt hatte. Mit der Zeit bildete das übergelaufene Wasser Eishügel, über die man sich selbst und seine Behälter auf Händen und Knien hinwegschieben musste. Dmitri Lichatschow besorgte sich Wasser an einem Feuerhydranten und schleppte es in einer Babywanne aus Zink heim. Wie er entdeckte, schwappte weniger Flüssigkeit über, wenn er zuerst ein paar Stöcke hineinwarf. Sein alter Vater (»der unlogischste und jähzornigste Mann, den ich je kannte«) verstand sich unerwartet gut aufs Holzhacken, wahrscheinlich, weil er – wie die burschuiki – ein Veteran des Bürgerkriegs war. Zoologen überlebten die Belagerung, wie Lichatschow anmerkt, weil sie wussten, wie man Ratten und Tauben fängt. Unpraktische Mathematiker dagegen starben.
    Während die offizielle Ration abnahm und die Privatvorräte zur Neige gingen, suchten die Leningrader immer verzweifelter nach Ersatzlebensmitteln. Am weitesten verbreitet waren schmychi und duranda , die Hülsen von Baumwoll-, Hanf-, Sonnenblumen- oder Leinsamen, die zu Blöcken zusammengepresst und normalerweise an Vieh verfüttert wurden. Gerieben und in Öl gebraten, konnten sie zu »Pfannkuchen« gemacht werden, deren sorgfältige Zubereitung den tröstlichen Eindruck erweckte, man habe eine wirkliche Mahlzeit vor sich. Fast alle Bürger aßen auch Tischlerleim, gefertigt aus den Knochen und Hufen geschlachteter Tiere. Lichatschow fand acht Platten davon im Puschkinhaus, die seine Frau mehrmals in Wasser einweichte und dann mit Lorbeerblättern zu einem übelriechenden Gelee aufkochte, das sie mit Essig und Senf hinunterwürgten. Außerdem kochten sie die Mixtur auf, mit der die weißen Schaffelljacken ihrer Töchter gereinigt wurden. »Sie war voll von Wollfasern und grau vor Schmutz, doch wir alle waren froh darüber.« Ein Maler durchsuchte die Wohnungen evakuierter Freunde. »Ich trat ein, durchwühlte alle Schränke und nahm alle möglichen trockenen Brotreste, teilweise schon angeschimmelt und grün, und noch dieses und jenes mit. Etwa einen so großen Beutel voll. Ich freute mich sehr, eine recht anständige Menge von Eßwaren ergattert zu haben … Dann brachte mir ein Student Leinkuchen. Das sind solche Blätter. Drei brachte er mir. Eine kolossale Sache – drei Blatt Leinkuchen!« 10 Daneben aß er Leinöl und Fischleim, die zur Mischung von Farben und zur Grundierung von Leinwänden benutzt werden.
    Ersatzstoffe erwiesen sich in vielen Fällen als gefährlich. Selbst wenn sie nicht giftig waren, konnten sie Durchfall und Erbrechen hervorrufen oder dünne Magenschleimhäute beschädigen. Doch alles war besser als nichts. Glyzerin enthielt Kalorien, wie die Leningrader entdeckten, ebenso Zahnpulver, Hustenmedikamente und Coldcream. Fabrikarbeiter aßen Industrie-Kasein (ein Bestandteil von Farbe), Dextrin (das zur Bindung von Sand in Gussformen dient), Panzerfett und Maschinenöl. Im Physiologischen Institut wurden Pawlows geifernde Hunde verzehrt; in einem anderen Institut verteilten Wissenschaftler ihre Vorräte an »Liebig-Extrakt«, einer Trockenbrühe aus Kalbsembryos zur Bakterienzucht. Ein Vater brachte das madige Knie eines Rentiers, Opfer eines Luftangriffs im Zoo, mit nach Hause. 11
    Auch die überwiegende Mehrheit der Haustiere wanderte in den Kochtopf. »Den ganzen Tag über«, schrieb eine Frau ihrem Ehemann an der Front, »versuchen wir, etwas Essbares zu finden. Mit Papa haben wir zwei Katzen gegessen. Sie sind so schwer aufzutreiben und zu fangen, dass wir alle nach einem Hund Ausschau halten, doch keiner ist zu sehen.« 12 Eine Familie bezeichnete Katzenfleisch mit dem französischen Wort chat , um sich nicht vor den Nachbarn zu blamieren. Andere tauschten ihre Haustiere aus, um nicht ihr eigenes verspeisen zu müssen, oder verschacherten sie für sonstige Bedarfsartikel. Eine Lehrerin brachte eine handgeschriebene Anzeige, die auf der Straße angeklebt gewesen war, mit ins Lehrerzimmer. Der Text lautete: »Ich tausche vier, fünf Meter Flanellstoff und einen Primuskocher für eine Katze«, und löste eine »lange Auseinandersetzung« aus: »Ist es moralisch oder nicht, Katzen zu essen?« 13 Diese Zimperlichkeit schwand bald dahin. »Nicht alle Eltern«, schrieb eine Überlebende der Belagerung über die Kollegen ihres Vaters, eines Astronomen am Observatorium Pulkowo,
    lieben ihre Kinder so sehr, wie Messer und seine Frau ihren großen Pointer Gralja

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