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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Reid
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Pud (16 Kilogramm) Kartoffeln wert, eine Taschenuhr anderthalb Kilo Brot, ein Paar Filzstiefel mit Überschuhen vier Kilo duranda . In den letzten sechs Dezembertagen starben weitere 13808 Bürger, womit die Gesamtzahl in diesem Monat bei fast 53000 lag. 17
    Die Entwicklung wurde auch in Berlin verfolgt. Der Nachrichtendienst der Wehrmacht und der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) lieferten regelmäßig Berichte über die Bedingungen innerhalb der Stadt, die sich auf Informationen von Spitzeln, Deserteuren und Kriegsgefangenen stützten. Am 24. November meldete der SD, die Ausbreitung von Krankheiten habe begonnen. Insbesondere Frauen seien wegen der Unzulänglichkeit oder des völligen Fehlens von Heizungen in Wohnungen und wegen beschädigter Fenster anfällig für schwere Rachenentzündungen. Die Sterblichkeitsziffer unter Kindern sei recht hoch, und es gebe Fälle von Abdominaltyphus und Fleckfieber, doch man könne noch nicht von einer Epidemie sprechen. Auch zahlreiche Fälle von Ruhr seien beobachtet worden. 18
    Vierzehn Tage später rühmte man sich in einem anderen Geheimdienstbericht, diesmal von Küchlers 18. Armee, erfolgreicher Artillerieangriffe auf ein Krankenhaus, ein Kulturhaus, das Mariinski-Theater, einen Lebensmittelspeicher, auf Straßenbahn-Rangiergleise und die Redaktion der Leningradskaja prawda . Gefangene und Verwundete würden nicht mehr von Bussen, sondern von Pferdewagen abgeholt, die freilich durch Mangel an Futter für die Tiere häufig nicht zur Verfügung stünden. Am gründlichsten widmete sich der deutsche Nachrichtendienst jedoch dem Beginn der Hungersnot. Die Zivilistenration sei, wie korrekt festgestellt wurde, seit Anfang September fünfmal gekürzt worden, und »die schlechte Organisation der Lebensmittelverteilung« bedeute, dass Kartenbesitzer oft weniger als ihren Anteil oder sogar gar nichts erhielten. Es komme vor, dass geschwächte Arbeiter in ihren Betrieben in Ohnmacht fielen. Auch die ersten Hungertode seien zu verzeichnen. Man dürfe schließen, dass in den kommenden Wochen eine weitere bedeutende Verschlechterung der Lebensmittelsituation für »die Petersburger Zivilbevölkerung« eintreten werde. 19
    Der Kunsthistoriker Nikolai Punin schrieb seinen letzten Tagebucheintrag des Belagerungswinters am 13. Dezember in den dunklen Zimmern des Scheremetjew-Palastes. Zuvor hatte er seine Sehnsucht zum Ausdruck gebracht, dass die Kirchen geöffnet und mit Gebeten, Tränen und Kerzen gefüllt würden, »um die kalte Eisensubstanz, in der wir leben, weniger fühlbar« zu machen. Nun verglich er Stalin mit dem eifersüchtigen Gott des Alten Testaments:
    De profundis clamavi: Herr, rette uns … Wir gehen zugrunde. Aber Seine Größe ist so unversöhnlich, wie die Sowjetmacht unbeugsam ist. Da sie 150 Millionen [Menschen] besitzt, macht es ihr nichts aus, drei Millionen von ihnen zu verlieren. Seine Größe, die im Himmel ruht, schätzt das irdische Leben nicht so hoch wie wir … Wir, selber verlassen und hungernd, leben in der vereisten und darbenden Stadt. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Schnee je so reichlich gefallen wäre. Die Stadt ist von Schneewehen wie von einem Leichentuch bedeckt. Sie ist sauber, da die Fabriken nicht arbeiten, und nur selten steigt Rauch aus den Schornsteinen der Wohnhäuser empor. Die Tage sind klar, und es könnte ein Leichtes sein, zu reisen, doch die Stadt ist begraben wie die Provinzen, weiß und knisternd …
    Und alles ist einfach; niemand sagt etwas Ungewöhnliches. Sie sprechen über nichts anderes als Lebensmittelkarten – und auch über Evakuierung. Sie leiden schlicht und denken wahrscheinlich, dass sie vielleicht noch nicht an der Reihe sind.
    Am stärksten empfinde ich die Einsamkeit nachts, genau wie die Sinnlosigkeit der Bitten und Gebete, und manchmal weine ich leise … Und es gibt keine Erlösung. Und man kann sich überhaupt keine vorstellen, es sei denn, man gibt sich Tagträumen hin. »Wir haben Ihm den Rücken gekehrt«, denke ich, »und Er hat ihn uns gekehrt.« Miserere, murmele ich und fahre fort: Das ist er, dies irae. Herr, rette uns.« 20

 
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    Die Eisstraße
    Der zweiunddreißigjährige Oberleutnant Fritz Hockenjos war Befehlshaber eines Radfahrzugs innerhalb der 215. Infanteriedivision von General Buschs 16. Armee. 2 Im Zivilleben Förster, stammte er wie die meisten seiner Männer aus Lahr, einer malerischen mittelalterlichen Stadt, die mitten in den geschwungenen Weinbergen am Westrand des

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