Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
liebten. Zärtliche Tränen stiegen in Jelisaweta Alexejewnas Augen auf, wenn sie die Hündin auf dem Gras herumtollen sah. In der Jagdsaison machte sich Messer jeden Sonntag mit seiner geliebten Preisträgerin auf den Weg – stolz und feierlich, mit ordentlicher deutscher Formalität.
Im Januar 1942 aßen sie das Tier. Messer schnitt ihr die Kehle durch, und Jelisaweta Alexejewna hielt sie fest. Die Hündin war kräftig, und sie schafften es nicht allein, weshalb sie Pimenowa um Hilfe baten. Dafür versprachen sie ihr ein Stück Fleisch, doch am Ende der ganzen Operation gaben sie ihr nur die Eingeweide. 14
Dies war der Zeitraum, in dem die privaten Bestände an Lebensmitteln oder Tauschwaren den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuteten. Eine Familie entdeckte einen Koffer mit »fossilisierten« Zwiebäcken, die zwanzig Jahre zuvor, während des Bürgerkriegs, verstaut worden waren. Eine andere, verzeichnete ein zehnjähriger Tagebuchschreiber, stieß auf eine Schachtel Kerzen, die für 625 Rubel verkauft werden konnten (sie hatten nur acht Kopeken pro Stück gekostet, als ihr Vater sie 1923 erwarb). Die Altphilologin Olga Freudenberg hielt ihre Mutter und sich mit einem Konservenpaket am Leben, das sie für ihren Bruder vor seiner Abreise in den Gulag vorbereitet hatten. Eine andere Frau tauschte die Kleidung ihres toten Mannes ein, die auf einem Vorkriegsbesuch in Amerika gekauft worden war. Die Reise hatte ihn das Leben gekostet – er war während des Terrors als kapitalistischer Sympathisant erschossen worden –, doch die hochwertigen Anzüge und Jacketts halfen, seine Familie zu retten.
Wenn es kein Essen gab, nahmen Fantasien den Platz ein. Igor Krugljakow, zur Zeit der Belagerung acht Jahre alt, erinnert sich, wie seine Schwester und er in der Familientruhe mit Weihnachtsschmuck nach Walnüssen suchten: »Das Innere war trocken und eingeschrumpelt, aber wir aßen es, weil es sich wie Nahrung anfühlte. Wir pickten sämtliche Krümel aus den Rissen in unserem großen, schmutzigen Küchentisch heraus – auch sie sahen aus wie Nahrung. Ich kann nicht behaupten, dass sie uns aufmunterten – es war nur ein Zeitvertreib.« Ende November starb sein Großvater an »Hungerdiarrhöe« oder vielleicht, wie Krugljakows Mutter sich grämte, weil sie ihm in ihrer Verzweiflung verdünntes Kaliumpermanganat verabreicht hatte, das purpurne Allzweck-Desinfektionsmittel, das als marganzowka bekannt war. Die Kinder, die noch kurz vorher durch die Straßen gerannt waren, um Schrapnelle zu sammeln, blieben nun zusammengedrängt im Bett und blätterten in einem Vogelbuch des neunzehnten Jahrhunderts und in Madame Molochowez’ Geschenk für junge Hausfrauen mit Rezepten für Aspik, Mousse, Sandkuchen und Spanferkel. »Zum ersten Mal in meinem Leben las ich die Worte ›Rum Baba‹. Es hatte auch Bilder, sehr schlichte, aber sie machten uns Freude.« 15 Eines der erschütterndsten Dokumente, die im Petersburger Museum der Verteidigung Leningrads ausgestellt sind, ist eine imaginäre Speisekarte, die ein hungriger Sechzehnjähriger, Walja Tschepko, säuberlich niederschrieb: »Menü für die Zeit nach der Hungersnot, wenn ich dann noch lebe. Erster Gang: Suppe – Kartoffeln und Pilze oder Sauerkraut und Fleisch. Zweiter Gang: Kascha – Hafermehl und Butter, Hirse, Perlgraupen, Buchweizen, Reis oder Grieß. Fleischgang: Hackklößchen mit Kartoffelbrei, Würste mit Kartoffelbrei oder Kascha. Aber es hat keinen Zweck, davon zu träumen, denn wir werden es nicht erleben!« Tatsächlich starb er im Februar.
Vielleicht noch trauriger als der körperliche Zusammenbruch war die Art, wie der Hunger Persönlichkeiten und Beziehungen zerstörte. Zunehmend von dem Gedanken an Lebensmittel beherrscht, verloren Individuen allmählich das Interesse an der Umwelt und, im Extremfall, an allem außer dem Bemühen, etwas Essbares zu finden. »Vor dem Krieg«, schrieb Jelena Kotschina bereits am 3. Oktober, »schmückten Menschen sich mit Mut, Prinzipientreue, Ehrlichkeit – mit allem, was ihnen gefiel. Der Orkan des Krieges hat diese Fetzen weggerissen; nun ist jeder geworden, was er in Wirklichkeit war, und nicht, als was er erscheinen wollte.«
Ihr Tagebuch – auf die Ränder alter Zeitungen, auf Tapetenreste und Rückseiten von Formularen geschrieben – schildert mit ätzender Ehrlichkeit die allmähliche Auflösung ihrer Ehe. Unmittelbar vor dem Krieg ist sie fröhlich und entzückt über ihr Baby und ihren liebevollen Ehemann.
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