Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
doch niemand wusste, wohin sie gebracht wurden. Der Kutscher schwieg hartnäckig. Als wir ein Geschäft vor uns erblickten, rannten wir um die Wette dorthin und bildeten, einander beschimpfend, eine Schlange. Es war, als wären wir abgerichtete Tiere. Aber das Pferd, das mit gütigen Augen in unsere Richtung schielte, zog die Karre weiter. Wir gaben unsere Plätze auf und liefen hinter ihm her. Das geschah fünf Mal …
Endlich hielt der Wagen an einem der Läden an. Draußen war eine lange Schlange, die sich um die Ecke wand … Der Geschäftsführer, Torhüter des Paradieses, zählte die »treuen Seelen« und ließ jeweils zehn ein. Ich stand da und starrte stumpf vor mich hin. Ich weiß nicht, was an meinem Gesicht abzulesen war, doch plötzlich fragte mich eine alte Frau in der Schlange leise: »Wann bist du an der Reihe?« Ich erwiderte, dass ich mich nicht angestellt hätte, und nun sei es ohnehin sinnlos, da nicht genug Makkaroni für alle vorhanden seien. Ich fügte hinzu, was für mich ungewöhnlich war, dass ich zu Hause ein kleines Kind hätte und nicht wisse, wie ich es ernähren solle.
Die Frau sagte nichts, doch als sich die Tür erneut öffnete, schob sie Jelena vor und blieb selbst draußen. »Ich war so verblüfft, dass ich, sogar als ich die Makkaroni in meinen vor Aufregung zitternden Händen hatte, immer noch nicht glauben konnte, dass dies wirklich geschehen war.«
Die Zeit, die durch diesen Akt der Nächstenliebe erkauft wurde, war kurz. Obwohl es Dima unter enormen körperlichen Anstrengungen gelang, eine burschuika aus Wellblech von einer Trümmerstätte anzufertigen, versank er Mitte Dezember in Apathie und Paranoia. Er ging nicht mehr zur Arbeit, half nicht mehr bei der Versorgung des Babys und stand nur auf, um Brot zu holen und auf dem Rückweg das Zusatzstück, das begehrte dowessok , zu essen. Seine Bewegungen, schrieb Jelena, waren die eines »zerbrochenen Roboters«, sein Gesichtsausdruck »versteinert« und »wild«, seine Augen von Ruß umrandet und seine Gesichtshaut durch ein Ödem gespannt und lackartig glänzend. Auch ihr eigenes Gesicht war geschwollen – sie sah aus »wie das Hinterteil eines Schweins«. Keiner von beiden konnte an etwas anderes als Essen denken:
Ich schöpfe vier Kellen »Suppe« [aus Tischlerleim und zerbröckeltem Brot] für Dima und zwei für mich in den Teller. Dafür habe ich das Recht, den Topf auszulecken, obwohl die Suppe so dünn ist, dass es im Grunde nichts zu lecken gibt. Dima isst mit einem Teelöffel, damit es länger dauert. Aber heute war er schneller fertig als ich. Zufällig hatte ich ein besonders hartes Stück Kruste erwischt, das ich voller Genuss kaute. Ich merkte, wie er meine stetig malmenden Kiefer hasserfüllt betrachtete.
»Du isst absichtlich langsam!«, rief er plötzlich böse. »Du willst mich quälen!«
»Wie kommst du darauf? Warum würde ich das tun?«, stieß ich erstaunt hervor.
»Bitte, versuch nicht, es abzustreiten. Ich sehe alles.«
Er funkelte mich an, und seine Augen waren bleich vor Wut. Ich fürchtete mich. Hatte er den Verstand verloren? 16
Vera Inber beobachtete am 1. Dezember zum ersten Mal, wie eine Leiche auf einem Schlitten transportiert wurde. »Heute sahen wir in der Wulfowstraße eine Leiche ohne Sarg, in Tücher gewickelt, auf einem kleinen Handschlitten, die Knie zeichneten sich deutlich ab. Die Brust war mit breiten Stoffstreifen umwickelt. Ein biblisches, ein ägyptisches Verfahren. Man sieht wohl die Umrisse des Menschen. Aber ob es Mann oder Frau ist, kann man schon nicht mehr unterscheiden …« Am Monatsende war dies zu einem alltäglichen Anblick geworden. Im Oktober, so meldete das NKWD Schdanow gegen Ende Dezember, seien in Leningrad 6199 Menschen »in Verbindung mit Lebensmittelproblemen« gestorben – ein fast achtzigprozentiger Anstieg gegenüber der Vorkriegssterblichkeitsziffer von etwa 3500 pro Monat. Im November war die Zahl auf 9183 und in den ersten fünfundzwanzig Dezembertagen auf 39073 gestiegen. An jedem der vergangenen fünf Tage hatte man 113 bis 147 Leichen auf den Straßen eingesammelt. Die Sterblichkeitsziffer war besonders hoch bei Männern (71 Prozent der Gesamtzahl), über Sechzigjährigen (27 Prozent) und Babys (14 Prozent). Trotz der Verhaftung von 1524 »Spekulanten«, hieß es in dem Bericht, seien die Nahrungsmittelpreise auf den offiziell illegalen, doch in der Praxis geduldeten Straßenmärkten in unglaubliche Höhen gegangen. Ein Kaninchenfellmantel war ein
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