Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
auf einem Harmonium, woraufhin die jungen Deutschen ihre Familienfotos hervorholten und die Kinder unterhielten, indem sie ihnen ihre Füllfederhalter, Taschenwecker und Dynamolampen vorführten. »Ich fragte sie nach Kolchos, Komsomol und Kommissar; nein, im Dorf habe es weder Parteimitglieder noch einen Kommissar, wohl aber einen Kolchosbetrieb gegeben. ›Oh, Kolchos kaputt! Gutt, gutt! – Bolschewik, oh, nix gutt!‹«
Am folgenden Tag kehrte der Radfahrzug zu seinem Bestimmungsort Rachmyscha, acht Kilometer hinter der Front, zurück. Am Abend schrieb Hockenjos:
Ich komme mit meinem Zugtrupp in ein Haus zu liegen, dessen typisch russischer, säuerlicher Gestank uns beinahe rücklings wieder hinauswirft. Die Wände sind mit alten Zeitungen beklebt, wegen der Wanzen, wie wir bald erfahren. Tisch, Bank, Bettschragen hinterm Ofen und zwei Heiligenbilder sind die ganze Einrichtung. Die einzigen Metallgegenstände scheinen das Ofenrohr und der Samowar zu sein … Fjodr, der Hauswirt, ist das Urbild des russischen Muschik. Sein Weib, unsäglich schmutzig, scheint die Quelle aller üblen Gerüche dieses Hauses zu sein. Das Alter dieser Menschen ist schwer zu schätzen, und so vermag man auch nicht zu sagen, ob das strohblonde, rotbäckige Mädchen, das mich mit seinen wohlgerundeten Formen und dreckigen Füßen immer an ein junges Milchschwein erinnert, nun die Tochter oder die Enkelin ist. Ein kleiner Rotznasenjunge namens Kolja vervollständigt die Familie …
Gesprochen wird da nicht viel bei uns, wir hocken um den Tisch oder liegen im Stroh, rauchend und teeschlürfend. Hin und wieder kommt Fjodr hinterm Ofen hervor und liest die Zigarrenstummel aus der Heringsbüchse. Enthält sie einmal nichts Brauchbares, so macht er sich ein Stückchen Zeitungspapier zurecht, kommt an den Tisch, schlägt die Hacken zusammen und hält uns grinsend das leere Papierchen hin. Dann muß ich wohl oder übel in den Tabaksbeutel greifen und ihm ein paar Krümel schenken, worauf er sich unter tiefen Bücklingen hinter den Ofen verzieht …
Die Armut dieses Volkes übersteigt alle Vorstellungen, die wir uns vom »Paradies der Arbeiter und Bauern« je machten. Zucker und Tee hat Fjodr seit Jahren nicht mehr gesehen, Tabak und Erdöl sind Kostbarkeiten. In der Ofenglut steht ein Topf mit Kartoffeln oder einer unbestimmbaren Brühe, davon lebt die Familie Tag für Tag. Dazu trinken sie heißes Wasser aus dem Samowar, schlürfen es aus alten Konservendosen. Als ich dem kleinen Kolja eine Rolle Drops schenkte, nahm die Alte sie sogleich an sich; nun bekommt jedes feierlich ein Gutsel in die Konservendose gelegt, ehe das heiße Wasser hineinsprudelt.
Das Leben war ab jetzt nicht nur unbequem, sondern auch beängstigend. Am Abend seiner Ankunft in Rachmyscha musste Hockenjos mit dem ersten einer langen Reihe von sowjetischen Partisanenangriffen fertig werden:
Um vier Uhr wird es Nacht, und die Stunden unter der trübseligen Erdölfunzel sind lang. Deshalb geht um acht Uhr alles zu Bett; die Russen klettern auf den Ofen, und wir legen uns auf das Stroh … Um zehn Uhr klopft es: »Alarm!« Auf der Straße nach Gladj stehe ein Lkw in Flammen, Schüsse seien gefallen. Radfahrerzug, sofort nachsehen!
Am Überfallplatz muss sich die Einheit um die Verwundeten kümmern. »Sonst kann ich nichts tun. Spuren im Wald sind nicht festzustellen. Russischer Fernspähtrupp? Partisanen? Um zwei Uhr morgens liegen wir wieder auf unserm Stroh.« Am 4. Dezember – »dabei grimmiger Frost: –30 °C« – waren drei weitere Lastwagen durch Minen gesprengt worden.
Wenn der Radfahrzug keine Verwundeten betreute, hatte er den Auftrag, Spähtruppunternehmen zwischen den von deutschen Soldaten besetzten Dörfern an der zerstreuten Front durchzuführen. Am Abend des 7. Dezember erhielten Hockenjos und seine Männer den Befehl, eine Nachbardivision aufzusuchen, um neue Anordnungen entgegenzunehmen und Waffen und Vorräte zurückzubringen. In der Stockfinsternis und bei 41 Grad Kälte entdeckten sie am folgenden Morgen um sechs Uhr, dass ihr Lastwagen, obwohl sie seinen Motor die ganze Nacht hatten durchlaufen lassen, eingefroren war. Also machten sie sich zu Fuß auf. »Der Frost beißt uns in die Gesichter. Die Augen schmerzen und füllen sich mit Wasser, das noch zwischen den Wimpern erstarrt. Die Sonne hebt sich, seltsam von rotem Rauch umwallt, aus den Wäldern, und es scheint selbst die klare Luft gefroren, so glitzert sie von feinsten Eiskristallen.« Um
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