Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
»Dima hat Urlaub«, schreibt sie am 16. Juni, während sie zusieht, wie er eine Windel wechselt. »Den ganzen Tag kümmert er sich um unsere Tochter: badet sie, zieht sie an, füttert sie. Seine gepflegten, sensiblen Konstrukteurshände schaffen all das mit erstaunlichem Geschick. Sein Haar lodert in der Sonne und erhellt sein glückliches Gesicht.« Sechs Tage später wurde die junge Familie, wie Millionen andere, von der Invasionsnachricht überrascht. »Ich trug Lena mit ihren bunten Rasseln hinaus in den Garten. Die Sonne beherrschte bereits den Himmel. Ein Schrei. Das Geräusch von zerbrechendem Geschirr. Die Frau, der unsere Datscha gehört, lief am Haus vorbei. ›Jelena Jossifowna! Krieg mit den Deutschen! Es ist gerade im Radio bekanntgegeben worden!‹« Nach zwei Kriegswochen hatte das Paar seinen ersten schweren Streit. Es ging um die Frage, ob Jelena mit ihrem Institut nach Saratow umsiedeln solle. Sie beschloss, sich nicht evakuieren zu lassen, und nach der Schließung des Belagerungsringes war die ganze Familie in Leningrad gefangen. Im September kam Dima kaum zum Schlafen, denn nachts hielt er mit dem Zivilschutzteam nach Feuern Ausschau, und im Anschluss an die Arbeit grub er in einem verlassenen Gemüsebeet nach Kartoffeln. Jeden Morgen ging Jelena am Newa-Ufer entlang zu dem Kinderkrankenhaus, wo die Säuglingsration Sojamilch ausgegeben wurde:
Die Ahorne brennen mit fieberhaftem Rot wie eine erlöschende Glut. Die Blätter fallen langsam, direkt in meine Hände. Ich nehme sie mit nach Hause und lege sie auf die Fensterbank. Jeden Morgen neue. Dies könnten die letzten Blätter meines Lebens sein.
Artilleriegeschosse peitschen über die Uferstraße, landen auf der Akademie der Künste und der Universität. Manchmal schlagen Granaten ganz in der Nähe ein, und wir sehen Menschen stürzen.
Im Krankenhaus trinkt Lena ihre Milch sogleich aus. Dann weint sie bitterlich und reckt die Händchen nach den weißen Babyflaschen … Aber man gibt ihr nicht mehr – hundert Gramm sind die Ration.
Dima wurde in eine Waffenfabrik versetzt, in der er als Dreher arbeitete. Dadurch erwarb er den Anspruch auf eine Arbeiterkarte:
In der Mittagspause bringt er mir sein Essen: eine kleine Fleischpastete und zwei Löffel Kartoffelbrei. Trotz meiner Proteste zwingt er mich, alles zu verspeisen: »Iss bitte, du musst Lena füttern. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin satt.« Aber ich weiß, dass es nicht stimmt, denn er isst nur Suppe. Das kann er nicht lange durchhalten. Und außerdem habe ich täglich weniger Milch.
Anfang Oktober versiegte Jelenas Milch, obwohl das Paar bereits seinen Notvorrat an Kartoffeln und suchari angebrochen hatte. »Nachts trinke ich einen ganzen Kochtopf voll Wasser, aber es nützt nichts. Lena schreit und reißt an meinen Brüsten wie ein kleines wildes Tier (armes Ding!). Nun geben wir ihr all die Butter und all den Zucker, die wir mit unseren Lebensmittelkarten bekommen.« Am 10. Oktober verzeichnete Jelena zum ersten Mal ihren Verdacht, dass Dima heimlich suchari verzehrte, während sie nicht zu Hause war. Die Zwiebäcke waren vier Wochen später verbraucht, und sie hatten nur noch vierhundert Gramm Hirse, um das Baby zu füttern. (»Nun verfluche ich mich, weil ich in dem Kommerzladen nur viereinhalb Pfund gekauft habe. Was für eine Närrin ich war!«) Da Jelena ihrem Mann nicht mehr traute, versteckte sie die Hirse jedes Mal, wenn sie die Wohnung verließ – »im Schornstein, unter dem Bett, unter der Matratze. Aber er findet sie überall.« Am 26. November kehrte sie unerwartet heim und ertappte ihn auf frischer Tat:
»Wie kannst du es wagen!«, brüllte ich und verlor die Beherrschung.
»Halt den Mund, ich kann nicht anders.«
Er schaute mich verzweifelt an und wich nicht einmal meinem Blick aus, wie er es in den letzten Tagen getan hat. Ich schwieg, und mein Zorn legte sich … Schließlich hatte sein Hunger dadurch, dass er mir all seine Mittagessen überlassen hat, früher eingesetzt als meiner.
Die Hirse reichte bis zum 2. Dezember. Zwei Tage später konnte Jelena infolge der Großzügigkeit einer Fremden Wertmarken gegen Makkaroni eintauschen. Sie war auf der Suche nach einer Verkaufsstelle durch die Straßen gestreift und hatte einen Pferdewagen entdeckt, der mit Kisten beladen war:
Eine Menschenmenge zog hinter der Karre her, als folge sie einem Sarg. Ich schloss mich diesem merkwürdigen »Trauerzug« an. Wie sich herausstellte, waren Makkaroni in den Kästen,
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