Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Schwarzwaldes liegt. Er hatte eine Frau namens Elsa und zwei kleine Söhne; seine Hobbys waren Jagd, Vogelbeobachtung, Fotografie und Gesang im örtlichen Kirchenchor.
Am 24. November fuhr er mit einem Militärzug in die Sowjetunion ein. Als Erstes sah er, vom Flachwagen mit den Flakgeschützen aus, die großzügigen Ackerflächen Litauens. »Hier war ein Land nach meinem Herzen! Endlich einmal kein Stacheldraht und keine Leitungsmasten, aber Freiheit und Weite!« Als die Soldaten an einem ländlichen Bahnhof hielten, um ihre Pferde zu füttern, wurden sie rasch von einer freundlichen Schar unbeholfener Teenager und von Frauen in Filzstiefeln und mit bunten Kopftüchern umringt. »Sie sprachen fast alle ein wenig Deutsch, lachten gern mit uns … Wieder setzte lebhafter Tauschhandel ein, und als die Kapelle einen Walzer spielte, fehlte nicht viel und die Landser hätten mit den strammen Litauerinnen getanzt, die auch gar nicht abgeneigt schienen.« Am folgenden Tag stoppten sie in Riga, wo sie ihre ersten Russen erblickten: Kriegsgefangene, die, bewacht von einem lettischen Heimwehrmann, zwischen den Gleisen arbeiteten:
… zerlumpte, ausgemergelte Gestalten mit stumpfen Gesichtern. Sie machten einen so ausgehungerten Eindruck, daß man jeden Augenblick ihr Umfallen befürchtete. Sie kamen zu unserm Zug und bettelten – ich erschrak vor dem Vergleich, aber es gab keinen andern: wie Tiere. Unsere gutmütigen Landser fütterten sie mit Brot, doch der Lette trieb die armen Teufel mit dem Gewehrkolben weiter. Im Davontrotten lasen sie zwischen den Gleisen Wursthäute, Brotkrumen, Zigarettenstummel auf und stopften alles gierig in den Mund. Der Lette erzählte, daß von den Gefangenen seines Lagers täglich etwa fünfzig an Hunger oder Krankheit starben oder bei Fluchtversuchen erschossen wurden. Er erzählte aber auch, daß die Bolschewiken bei ihrem Rückzug 50% der Rigaer Kinder und 60% der Einwohner von Dünaburg verschleppt hätten. Uns schauderte; hier im Osten wehte eine verdammt harte Luft. Europa schien hier aufzuhören.
Am Abend des 26. November erreichten sie die Drahtverhaue und hölzernen Wachtürme der bis 1939 geltenden Grenze mit Russland. »Ich hockte am Fenster und hauchte mir immer wieder ein Guckloch in die vereisten Scheiben. Im bleichen Mondlicht sah ich Heide, Moor, abgeholzten Wald, verwilderte Äcker, Gestrüpp.« Von nun an musste der Zug nachts verdunkelt und die Lokomotive nach jedem Halt mit Lötlampen aufgetaut werden. Sie rollten durch »die ewig gleiche, trostlose Landschaft«:
… dünnes Gestrüpp von Weiden und Birken bedeckte die weiße Einöde, eine Herde dunkler Blockhütten kauerte verloren darin, schwarze Wälder begrenzten den Horizont, es schneite ein wenig. Viele Stunden lang lagen wir auf offener Strecke fest. Zuweilen arbeiteten dick vermummte Gestalten an den Gleisen, Weiber und alte Männer; sie sahen uns Vorbeifahrende an, als sähen sie uns nicht. Nur die Kinder winkten uns nach oder bettelten um Brot. »Pan, gib Brot!« riefen sie, und das war das erste Wort, das wir von russischen Menschen hörten und immer wieder hörten.
Am 28. November stiegen Hockenjos und seine Männer aus dem Zug und setzten ihren Weg auf der Straße fort, die von Soldaten, Pferden und langen Gefangenenkolonnen wimmelte. Ihre hoch bepackten Fahrräder im eiskalten Wind schiebend, überquerten sie den Fluss Wolchow auf einer Pionierbrücke, ließen den Schutthaufen der Stadt und des Schlosses Grusino hinter sich und suchten in einem Dorf nach dem anderen ihren Regimentsgefechtsstand. Sie fanden ihn schließlich in dem Dorf Rachmyscha, »zusammengepfercht in einer kleinen, stinkenden Hütte – die Offiziere des Stabes, die Schreiber, Zeichner, Melder, Fernsprecher und Funker alle in einem Raum«. Ihr eigenes Nachtquartier war eine Hütte in dem Dorf Ljuban, die einer Bäuerin und deren drei Kindern gehörte. Die Mutter beeilte sich, Hockenjos zu versichern, dass sie keine Russen, sondern Letten seien, Nachfahren von Baptisten, die der Zar »vom Kriegsdienst befreit und in der Wildnis am Wolchow angesiedelt« habe. »Die Sowjets aber hatten«, wie Hockenjos erfuhr, »die Männer im Jahre 1938 geholt und in ein Zwangsarbeitslager bei Archangelsk verschickt. Wir versprachen, ihr den Mann, wenn wir erst nach Archangelsk kämen, heimzuschicken. Adolf Hitler – den sie auf einer Briefmarke sofort erkannte – würde auch das in Ordnung bringen!«
Nach dem Abendessen spielte die Gastgeberin Choräle
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