Blondine ehrenhalber
zeigte 4.39 Uhr. Nur noch anderthalb Stunden bis sechs. Sie würde den ganzen Tag wie ein Zombie herumlaufen.
Immer wenn sie nicht einschlafen konnte, dachte Amanda an ihre verflossenen Liebhaber. An diesem Morgen erinnerte sie sich an eine Affäre, die sie auf dem College fast mit einem ihrer Lehrer gehabt hätte, einem Mann, in den sie schon einige Semester lang verliebt gewesen war. Eines Abends hatte er etwas zu viel Alkohol getrunken, als er zusammen mit einigen Studenten in einer Kneipe ein Basketballspiel angeschaut hatte. In der Halbzeitpause hatte er Amanda den Arm um die Schulter gelegt und gesagt: »Meine Frau hat eine problematische Schwangerschaft. Seit Monaten will sie keinen Sex mehr. Ich denke oft an dich, Amanda, und zwar auf eine Weise, wie ich es nicht tun sollte.« Die Einladung, mit ihm zu schlafen, wurde ihr auf einem Silbertablett serviert, verziert mit Goldrand und roten Lettern.
Amanda, damals 21 Jahre alt, erklärte sich einverstanden, die Kneipe zu verlassen und mit ihm in ein Gasthaus außerhalb des Campus zu fahren. Auf der Fahrt sprachen sie kein Wort. Auf dem Zimmer fielen sie auf das quietschende Bett und küssten sich. Nach zirka zehn Minuten Herumwälzen und Fummeln — Amanda fand ihn immer schon etwas schlaff — fing der Lehrer an zu schluchzen. Er richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Weinen erinnerte an das Geheule eines Babys.
Zu Hause in ihrem Zimmer schlug Amanda die Decke zurück und stand auf. Zwecklos, sich etwas vorzumachen oder andere gescheiterte Affären zu vergegenwärtigen: Chicks Tod war ein Zeichen, beschloss sie. Es würde ihr nie gelingen, ihr romantisches Ideal zu finden, es war, als lastete ein Fluch auf ihr. Sie war gut aussehend genug, um Horden von Männern anzuziehen, aber darunter befand sich kein Einziger, den sie wirklich wollte. Sie sollte es machen wie Frank und aufgeben, dachte sie bitter. Ihren Seelenfreund gab es nur in ihren Träumen.
Amanda fror in ihrem pinkfarbenen Flanellnachthemd. Sie schlüpfte in ihren Chenille-Bademantel, schlitterte in Hausschuhen ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Fensterbank und sah nach draußen auf die einsame, menschenleere Montague Street. In den Stunden vor Tagesanbruch sah Brooklyn friedlich aus. Die Gehsteige waren leer, die Straßenlaternen leuchteten gelblich. Amanda versuchte sich ein Bild davon zu machen, was für eine romantisch-tragische Figur sie wohl abgab, wenn sie in diesem Licht allein am Fenster saß. Einige Tauben trieben sich auf dem Bordstein in der Nähe eines Baumes herum, der in eines der quadratisch ausgeschnittenen Drecklöcher auf dem Gehsteig gepflanzt worden war. Jemand musste Brot für sie heruntergeworfen haben. Frank beschwerte sich immer über die Tauben und ihr Vorschlag zur städtischen Neuorganisation sah folgendermaßen aus: Man sollte sie fangen, braten und in Obdachlosenheimen als Jungtauben servieren. Amanda hingegen liebte alle Lebewesen und wollte nicht, dass irgendeinem auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Tauben müssten stundenlang vor sich hin brutzeln, bis die ganzen Krankheitserreger abgetötet wären. Weiß der Himmel, was für...
crash.
Die Tauben flatterten auf die höchsten Äste des Baumes. Der Lärm schien direkt von unten zu kommen, aus dem Café. Amanda hielt Ausschau, ob sich irgendetwas bewegte, aber von ihrem Platz genau über dem Laden aus konnte sie nichts sehen. Sie müsste hinuntergehen und nachschauen. Oder Frank wecken und mit ihr gemeinsam nachsehen. Aber das wäre nicht fair. Frank brauchte ihren Schönheitsschlaf, dachte Amanda schmunzelnd, um sich im nächsten Moment selbst zu schelten: Nur weil Frank sich als Null fühlte, war das noch lange kein Grund, an ihrem wunden Punkt zu rühren. Die Tauben flogen zurück auf den Bordstein und Amandas Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. Da war kein Geräusch gewesen, sie hatte sich alles nur eingebildet. Und Frank hatte anscheinend auch nichts gehört, jedenfalls schlief sie weiter wie eine Tote.
crash.
Diesmal flatterten die Tauben davon, nach Westen Richtung New Jersey. Amanda beschloss, wenn sie schon bei ihrer Hauptbeschäftigung, die wahre Liebe zu finden, kein Glück hatte, so könnte sie es genauso gut woanders versuchen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Sie lief in ihr Zimmer und zog Katzenlady-Kleidung über — eine schwarze Palazzo-Wollhose mit einer Kordel zum Zuziehen, ein schwarzes
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