Blondine ehrenhalber
»Clarissa, ich weiß, es ist dir nicht recht, aber ich musste ihm einen Besuch abstatten, um mir selbst ein Bild zu machen — immerhin ist es mein Geschäft und ich habe ein Vetorecht.« Nein, klingt zu polemisch. Wie wäre es damit: »Zorns Geschreibsel hat mir so geschmeichelt, dass ich ihm persönlich zu seiner Berichterstattung über unser kleines Café gratulieren wollte. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich den Besuch nicht zuerst mit dir abgesprochen habe. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich, ich weiß nicht, gefährlich gefühlt und fand, es passt zu mir.« Die Variante vergaß sie besser sofort wieder, Clarissa würde sie ihr nie abkaufen.
Es frustrierte Frank, dass sie sich bei einer Meinungsverschiedenheit mit Clarissa rechtfertigen musste. Früher hatte sie immer auf ihrer Meinung beharrt, egal, wie überzeugt sie selbst tatsächlich davon war. Was hatte Clarissa nur an sich, dass der Selbstzweifel so an Frank nagte? Frank war persönlich involviert, klar. Wäre ihr die Freundschaft gleichgültig, würde ihr die Zusammenarbeit mit Clarissa sicher leichter fallen.
Das Gespräch mit Piper brauchte sie sich nicht zurechtzulegen, denn sie hatte nichts zu verlieren und würde scharf und schnell wie ein Messer agieren, das wusste sie. Die Büros der New York Post befanden sich am Times Square. Frank verließ die U-Bahn am Broadway, 42nd Street. Früher war das Pressehaus in der South Street, am unteren Ende von Manhattan, gewesen, aber dann waren sie weiter in den Norden gezogen und residierten jetzt neben der New York Times und Condé Nast Publishing ( Vogue, Vanity Fair, Mademoiselle und andere). In den vergangenen Jahren hatte sich der Times Square komplett verändert. Als Frank ihn jetzt im frühmorgendlichen Licht sah, war sie überwältigt und zugleich beunruhigt von dem Wandel. Sämtliche Pornotheater waren verschwunden, abgelöst von Broadway-Musical-Produktionen wie König der Löwen und Grease — dabei würden beide Namen großartige Pornotitel abgeben. Kein bisschen Müll, im wörtlichen oder übertragenen Sinne, rollte die Straße entlang. An die Stelle von Fastfood-Läden und Latinokneipen waren Dutzende von touristenfreundlichen Restaurants getreten. Playland — lange Zeit New Yorks heißeste Rotlichtmeile für Kinderprostitution — hatte sich in einen Disney-Geschenkartikel-Shop verwandelt. Klar, jeder normale Mensch würde den Verkauf von Stofftieren einem Kinderstrich vorziehen. Aber Goofys Grimassengesicht, das auf einer der Reklametafeln am Broadway prangte, jagte Frank ebenso einen Schrecken ein, wie ein gütiger, gut gesinnter Clown ein Kleinkind in Angst versetzen konnte. Purer Konsum führte letztlich aber auch nur zu Problemen. Wohin würde jetzt, da der Times Square keimfrei war, abnormes Verhalten ausweichen? Nach Hause und in die Schule.
Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie den gigantischen Virgin Megastore. Daneben das All-Star Café. Frank fragte sich, ob die überhaupt wussten, dass es verschiedene Kaffeebohnensorten gab. Ein Moonburst an der Ecke vervollständigte das Bild. Der Anblick bohrte sich wie eine Nadel in Franks hauchdünne und gespannte Membran der Hoffnung, was das Romancing the Bean betraf. Wenn es ihr nicht gelang, den Laden zu erhalten, was hatte sie dann noch? Was konnte sie dann noch als ihr Eigentum beanspruchen? Ohne das Café wäre sie verloren, hätte sie keinen Anker mehr. Vielleicht wäre das Leben leichter, wenn sie sich ein zweites Standbein schaffte. Was könnte das sein? Ein neuer Gedanke drängte sich auf: Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie sie sich an Clarissas Schulter ausweinte, nachdem das Romancing the Bean geschlossen werden musste. Die Blondine strich ihr über das schwarze Haar und sagte: »Mach dir keine Sorgen, Francesca. Ich bin in jeder Hinsicht für dich da.«
Mit diesem bittersüßen Tagtraum war sie in das Redaktionsgebäude des Sensationsblattes gelangt. In der Halle lagen an einem Zeitungsstand alle Zeitungen und Zeitschriften aus, die es gab. Den Blickfang aber bildeten die Stapel des hauseigenen Produkts. Sie suchte Zorn auf dem Wegweiser. Sechzehnter Stock. Da sie keinen Sicherheitsbeamten am Aufzug fand, nahm sie ohne Umstände den nächsten Fahrkorb nach oben.
Die Türen öffneten sich direkt in den Redaktionsräumen. Verglichen mit der relativ ruhigen Halle herrschte in der Nachrichtenredaktion Chaos, denn eine Stadtzeitung kann es sich nicht leisten zu schlafen. Männer und Frauen jeglichen
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