Blood - Ein Alex-Cross-Roman
Fluss ist Wahrheit.«
Oder zumindest so dicht an der Wahrheit wie irgend möglich.
105
In diesen Tagen fühlte ich mich seltsam aufgewühlt und verletzlich und vielleicht auch lebendig.
Das war gleichermaßen gut wie schlecht.
Fast jeden Morgen frühstückte ich so gegen halb sechs mit Nana Mama. Dann joggte ich in meine Praxis, wechselte die Kleidung und fing um halb sieben mit den Therapiesitzungen an.
Montags und donnerstags war Kim Stafford meine erste Patientin. Es ist mir schon immer schwergefallen, meine persönlichen Gefühle und die Sitzungen zu trennen, aber vielleicht war ich auch nur aus der Übung. Andererseits … bei etlichen meiner Kollegen hatte ich immer das Gefühl gehabt, dass sie zu keimfrei waren, zu reserviert und distanziert. Was sollte man als Patient, als Mensch, denn damit anfangen? Oh, es macht nichts, dass ich das Mitgefühl einer Steckrübe habe. Ich bin ja Therapeut.
Ich musste diese Arbeit auf meine Art und Weise machen, mit Wärme, mit Gefühl und Leidenschaft und dafür mit weniger Mitleid. Ich musste die Regeln brechen, musste unorthodox handeln. Wie zum Beispiel Jason Stemple auf seiner Polizeiwache aufzusuchen und zu versuchen, diesem Dreckschwein die Lichter auszuknipsen. Das nenne ich professionell.
Bis zum Mittag hatte ich Pause, und so beschloss ich, mit Monnie Donnelley in Quantico zu sprechen. Ich hatte eine Theorie bezüglich des Schlachters, und sie stellte ein paar Nachforschungen für mich an. Doch kaum hatte ich mich gemeldet, da unterbrach Monnie mich schon. »Ich habe etwas
für dich, Alex. Das wird dir gefallen. Es ist ja sowieso deine Idee, deine Theorie.«
Dann erzählte Monnie, dass sie mit Hilfe meiner Notizen etwas über Sullivans Frau erfahren hatte, und zwar von einem Mafia-Soldaten aus dem Zeugenschutzprogramm, der jetzt in Myrtle Beach, South Carolina, wohnte.
»Ich habe deine Spur verfolgt, und du hattest voll und ganz Recht. Dadurch bin ich zu einem Kerl gelangt, der auf Sullivans Hochzeit war, die, wie du dir denken kannst, ziemlich überschaubar war. Der Typ aus Brooklyn, von dem du mir erzählt hast, Anthony Mullino, der war auch da. Allem Anschein nach wollte Sullivan nicht viele Menschen an seinem Privatleben teilhaben lassen. Nicht einmal seine eigene Mutter war eingeladen, sein Vater war ja schon tot, wie du weißt.«
»Ja, genau, umgebracht von seinem Sohn und ein paar Kumpels. Was hast du über Sullivans Frau rausgefunden?
»Na ja, das ist ganz interessant und nicht gerade das, was man erwarten würde. Sie stammt ursprünglich aus Colts Neck, New Jersey, und war Grundschullehrerin, als sie Sullivan kennen gelernt hat. Was sagst du dazu? Salvatore Pistelli, der Kerl aus dem Zeugenschutzprogramm, sagt, dass sie ein süßes Mädchen war. Und dass Sullivan nach einer guten Mutter für seine Kinder gesucht hat. Rührend, hmm, Alex? Unser Killer-Psycho hat ein weiches Herz. Ihr Mädchenname lautet Caitlin Haney. Ihre Eltern wohnen immer noch in Colts Neck.«
Noch am selben Tag ließen wir die Telefone im Haus von Caitlin Sullivans Eltern überwachen. Dasselbe bei ihrer Schwester in Toms River, New Jersey, und bei ihrem Bruder, einem Zahnarzt in Ridgewood.
Ich hatte wieder etwas Hoffnung. Vielleicht konnten wir
diesen Fall doch noch zum Abschluss und den Schlachter hinter Schloss und Riegel bringen.
Vielleicht würde ich ihn wiedersehen und meinerseits eine kleine Verbeugung machen.
106
Seit Michael Sullivan nach Massachusetts gezogen war, nannte er sich Michael Morrissey. Morrissey war ein Spinner gewesen, den er in seinen Anfangsjahren als Profikiller praktisch in seine Einzelteile zerlegt hatte. Caitlin und die Jungs hatten ihre Vornamen behalten, trugen aber jetzt ebenfalls den Nachnamen Morrissey. Die Geschichte, die sie in- und auswendig gelernt hatten, lautete, dass sie während der letzten Jahre in Dublin gelebt hatten, wo ihr Vater als Berater für diverse irische Firmen mit Geschäftsverbindungen in die USA gearbeitet hatte.
Jetzt hatte er seine »Beratertätigkeit« nach Boston verlagert.
Dieser letzte Satz entsprach zufälligerweise sogar der Wahrheit, da der Schlachter gerade über einen langjährigen Kontakt in South Boston einen Job bekommen hatte. Einen Job … einen Auftragsmord.
An diesem Morgen verließ er das Haus mit Blick auf den Hoosic River um neun Uhr, also zu einer äußerst zivilisierten Zeit. Dann lenkte er seinen neuen Lexus auf den Massachusetts Turnpike, in westlicher Richtung. Sein Arbeitswerkzeug -
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