Blood Shot
gegenüber wußte ich, daß an ihren Behauptungen etwas dran war: Nancy hatte irgend etwas über die Recyclinganlage erfahren und meine Hilfe gebraucht, um damit zu Rande zu kommen.
Mrs. Cleghorns Haus zu finden, war einfach. Ich war der Meinung gewesen, ich hätte die South Side endgültig hinter mir gelassen, aber es schien, als ob mein Unbewußtes sich an jedes Haus erinnerte, in dem ich als Kind gewesen war.
Drei Autos standen in der kleinen Einfahrt, und auch die Straße vor dem Haus war zugeparkt, so daß ich sie ein Stück entlangfahren mußte, bis ich einen Parkplatz fand. Dann fragte ich mich, ob es nicht besser sei, meinen Besuch hinauszuschieben, bis die Kondolenzbesucher gegangen waren. Aber selbst wenn es meine Bestimmung ist, vernünftig zu sein, gehört Geduld nicht zu meinen herausragendsten Tugenden, und so ging ich ohne weiteres auf das Haus zu.
Die Tür wurde von einer jungen Frau um die Dreißig in Jeans und Sweatshirt geöffnet. Sie sah mich fragend an, und ich nannte ihr meinen Namen. »Ich bin eine alte Freundin von Nancy. Wenn Mrs. Cleg-horn dazu in der Lage ist, würde ich gern einen Augenblick mit ihr sprechen.«
»Ich werde sie fragen«, murmelte sie.
Als sie zurückkam, bedeutete sie mir, daß ich reinkommen könne, und verschwand. Ich betrat den Flur, wunderte mich über den Lärm und hatte den Eindruck, mich im Haus unserer Kindheit zu befinden und nicht an einem Ort der Trauer. Als ich dem Lärm Richtung Wohnzimmer nachging, rannten zwei kleine Jungen auf mich zu, die einander mit süßen Brötchen beschossen. Der erste stieß mit mir zusammen, setzte seinen Weg fort, ohne sich zu entschuldigen, dem zweiten wich ich aus und blickte dann vorsichtig um die Ecke, bevor ich eintrat.
Das lange, gemütliche Zimmer war überfüllt. Ich kannte niemanden, vermutete jedoch, daß es sich um Nancys vier Brüder handelte; die drei jungen Frauen mußten Mrs. Cleghorns Schwiegertöchter sein. Um sie herum spielte sich ab, was wie Hochbetrieb im Kindergarten aussah: Kinder tobten, rauften, kicherten und kümmerten sich nicht um die Ermahnungen ihrer Eltern. Niemand beachtete mich, aber schließlich erblickte ich in einer Ecke Ellen Cleghorn mit einem schreienden Baby im Arm, das sie ohne große Begeisterung hielt. Als sie mich bemerkte, stand sie auf, reichte das Baby einer der jungen Frauen und bahnte sich einen Weg durch die Schar ihrer Enkelkinder.
»Es tut mir so leid wegen Nancy«, sagte ich und drückte ihre Hand. »Und es tut mir leid, daß ich Sie ausgerechnet jetzt stören muß.«
»Schön, daß du gekommen bist«, sagte sie lächelnd und küßte mich auf die Wange. »Die Jungs meinen es gut mit mir. Haben sich den Tag freigenommen und gemeint, es würde die Oma freuen, die Kinder um sich zu haben. Aber es ist zuviel für mich. Laß uns ins Eßzimmer gehen. Es gibt Kuchen, und eines der Mädchen kocht gerade Kaffee.«
Ellen Cleghorn war auf angenehme Weise gealtert. Sie war eine etwas fülligere Ausgabe von Nancy, mit dem gleichen blonden Kraushaar. Es war nicht grau, sondern eher dunkler geworden, und sie hatte noch immer eine weiche, klare Haut. Seitdem ihr Mann vor vielen Jahren mit einer anderen Frau davongelaufen war, war sie geschieden, und sie hatte ihre große Familie ohne staatliche Unterstützung oder Unterhaltszahlungen durchgebracht, nur mit ihrem mageren Gehalt als Bibliothekarin. Nach dem Basketball-Training war für mich immer Platz an ihrem Eßtisch gewesen. Ellen war, was Hausfrauentugenden betraf, in der South Side einzigartig gewesen. Die Unordnung im Eßzimmer war genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte, Staubflocken sammelten sich in den Ecken, Bücher und Zeitungen auf dem Tisch werden einfach zur Seite geschoben, wenn gegessen wurde. Trotz des Durcheinanders war mir als Kind das Haus immer höchst romantisch erschienen. Es war eines der wenigen großen Häuser in der Nachbarschaft - Mr. Cleghorn war Schuldirektor gewesen, bevor er auf und davon ging -, jedes der fünf Kinder hatte sein eigenes Zimmer, ein seltener Luxus für South-Side-Verhältnisse. Nancys Zimmer hatte sogar einen kleinen Erker, in dem wir immer Theater spielten.
Mrs. Cleghorn setzte sich an den Kopf des Tisches neben einen Zeitungsstapel und bat mich, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Ich blätterte nervös in einem Buch. »Nancy hat gestern versucht, mich zu erreichen. Ich habe Ihnen das, glaub' ich, schon gesagt, als Sie mir ihre Nummer gaben. Wissen Sie, was sie wollte?«
Sie schüttelte
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