Blood Sun
Sorge, wir brauchen nicht lange. Gute Nacht.«
Das war deutlich. Der Mann wandte sich ab, knipste die Taschenlampe aus und verzog sich in den dunklen Gang.
»Nachts sind die hier ziemlich nervös. Sie haben eine lebhafte Fantasie. Sehen überall Gespenster. Aber ich mache ihnen natürlich keine Vorwürfe. Auch ich habe schon Statuen herumlaufen sehen, wenn ich hier mal länger arbeiten musste.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, meinte Max.
»Kommt ganz drauf an, wie viel Fantasie man hat.«
Im schwachen Licht konnte Max das Grinsen des alten Mannes sehen. Nun stieß Professor Miller die Tür auf und trat in einen Raum, in dem mittelamerikanische Kunstwerke ausgestellt waren.
Max starrte in die jadegrünen Augen eines schwarzen Ungeheuers. Das unförmige Vieh, unverkennbar eine Raubkatze, bannte ihn mit seinem Blick. Max hatte das Gefühl, im tiefsten Dickicht des Regenwaldes plötzlich einem schwarzen Jaguar gegenüberzustehen.
Es handelte sich um eine sehr alte Statue aus schwarzem Vulkangestein. Die rauen Kanten verliehen dem Untier etwas Lebendiges, als würde der Wind durch sein Fell blasen. In dem geöffneten Rachen blitzten weiße Zähne, aus Knochen geschnitzte perfekte Nachbildungen von Eck- und Schneidezähnen. Es war ein wildes, mächtiges Tier, das die Ohren sprungbereit angelegt hatte.
Max roch den moschusartigen Duft der Raubkatze und ihren faulen Atem. Und er vernahm ein tiefes Knurren, das aus ihrer Kehle drang. Er fand das Tier beängstigend, aber zugleich auch ungemein faszinierend, und als er die Flanke berührte, entfuhr ihm ein Seufzer.
Max hatte das Gefühl, dass ein Teil von ihm frei durch den Dschungel streifte. Seine Krallen gruben sich in die Rinde eines Baumstammes und über den Wipfeln funkelten Sterne am schwarzen Nachthimmel.
»Max?«
Die Stimme des Professors verwandelte die Statue wieder in die leblose Wächterin der ausgestellten Schätze zurück.
An drei Wänden standen beleuchtete Vitrinen, an der vierten hingen Steintafeln mit kunstvoll gestalteten Reliefs, auf denen ein makabrer Tanz des Blutvergießens dargestellt war.
»Das sind Könige und Königinnen der Maya, die ihren Göttern Menschen opfern.«
Er ging weiter in den Raum hinein. Max hingegen blieb stehen und streckte eine Hand aus, um das Relief zu berühren. Ein lautes Alarmsignal ließ ihn zusammenfahren. Als er die Hand zurückzog, brach das Geräusch sofort ab.
»Die Reliefs sind elektronisch gesichert«, sagte Professor Miller. »Die sind uralt und wir können nicht zulassen, dass ganze Schulklassen mit ihren Fingerchen draufpatschen. Also bitte nicht mehr anfassen. Nun, wo haben wir es denn? Ah, hier ist es ja!«
Im Dämmerlicht des Ausstellungsraums war eine meterlange Landkarte zu sehen, auf der die Geschichte der mexikanischen und mittelamerikanischen Völker skizziert war.
Professor Miller lief an einigen durch unterschiedliche Farben markierten Feldern vorbei und blieb mit einem Mal stehen. »Die Maya. Hier geht es um die Zeit von zweihundertfünfzig vor bis tausend nach Christus.«
Der Forscher breitete Max’ Quipu auf einem Säulensockel aus.
Aus dem weitläufigen Gebäude drang ein Geräusch an Max’ Ohren. »Ich habe da hinten etwas gehört«, flüsterte er.
Der alte Mann wandte sich von den Knotenschnüren ab und sah ihn fragend an.
»Ein leises, dumpfes Geräusch. Ich weiß nicht, was das war«, sagte Max.
Sie lauschten, aber nun blieb alles still.
Professor Miller schenkte seine Aufmerksamkeit wieder der Karte. »Das war bestimmt einer der Nachtwächter. Also, pass auf!«, sagte er, ohne zu merken, dass Max sich weiterhin auf die Geräusche aus den endlosen Korridoren und Sälen konzentrierte.
Dies waren keineswegs die nahezu lautlosen Schritte eines gelangweilten Nachtwächters, der noch viele Stunden Dienst vor sich hatte. Es klang eher wie ein Lufthauch, der über die kalten Fußböden des Museums stric h – wie das Geflüster von Ratten.
Sein Instinkt mahnte ihn, wachsam zu bleiben, aber zugleich hoffte er, dass er sich alles bloß einbildete. Er zwang sich, dem zu folgen, was der alte Mann anhand der Karte erläuterte. Der schmale Streifen Land zwischen Südamerika und Mexiko war mit Zeichen übersät.
»Schau, hier ist Danny Maguire auf dem Weg nach Mexiko vorbeigekommen. Er hat sich vor einigen Monaten bei mir gemeldet und erzählt, er habe die antiken Ruinen des Großen Jaguar erreicht, des Königs, der auf dem Relief dargestellt ist, das du eben angefasst hast.«
»Dann
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