Bloodlines - Mead, R: Bloodlines - Bloodlines
Jungen und Mädchen durften die Wohnheime des anderen Geschlechts betreten, wenn auch unter Einschränkungen. Micah erklärte diese Regeln ebenfalls, die einiges Gemurre auslösten. Bei der Erinnerung an die ehrfurchtgebietende Mrs Weathers tat mir jeder Junge leid, der versuchte, ihre Wohnheimregeln zu brechen.
Beide Wohnheime hatten ihre eigenen Cafeterias, wo jeder Schüler essen durfte, und unsere Orientierungsgruppe aß zu Mittag, während wir noch auf dem Westcampus waren. Micah setzte sich zu meinen Geschwistern und mir und legte sich mächtig ins Zeug, mit jedem von uns zu reden. Eddie reagierte höflich, nickte und stellte Fragen, aber in seinen Augen stand immer noch ein leicht gehetzter Ausdruck. Jill war zuerst zurückhaltend, doch sobald Micah anfing, mit ihr zu scherzen, erwärmte sie sich schließlich für ihn.
Wie komisch, dachte ich, dass es Eddie und Jill leichter fiel als mir, sich an diese Situation anzupassen. Sie befanden sich doch in einer fremden Umgebung, mit einer anderen Rasse, aber sie waren trotzdem von vertrauten Dingen wie Cafeterias und Schließfächern umgeben. Mühelos schlüpften sie in die Rollen und Abläufe. Unterdessen kam ich mir, obwohl ich die Welt bereist und überall gelebt hatte, in einer Umgebung wie am falschen Platz vor, die für alle anderen ganz gewöhnlich war.
Wie dem auch sei, ich brauchte jedenfalls nicht lange, bis ich herausgefunden hatte, wie die Schule funktionierte. Alchemisten wurden dazu ausgebildet, zu beobachten und sich anzupassen, und obwohl mir die Schule fremd war, begriff ich die Abläufe schnell. Ich hatte auch keine Angst davor, mit Leuten zu reden – ich war es gewohnt, Gespräche mit Fremden anzufangen und mich aus heiklen Situationen herauszureden. An einem, das wusste ich jedoch, würde ich arbeiten müssen.
»Ich habe gehört, dass ihre Familie vielleicht nach Anchorage zieht.« Wir waren beim Orientierungsmittagessen, und zwei aus der Neunten, die in meiner Nähe saßen, sprachen über eine Freundin, die heute nicht aufgetaucht war.
Die Augen des anderen Mädchens weiteten sich. »Im Ernst? Ich würde sterben, wenn ich dort hinziehen müsste.«
»Ich weiß nicht«, meinte ich, während ich mein Essen auf dem Teller hin und her schob. »Bei all der Sonne und den UV-Strahlen hier scheint es mir, als würde Anchorage vielleicht tatsächlich ein längeres Leben ermöglichen. Man braucht nicht so viel Sonnencreme, daher ist es außerdem noch ökonomischer.«
Ich hielt meine Bemerkung für hilfreich, doch als ich aufschaute, starrten mich die beiden an. Ihren Blicken nach hätte ich wahrscheinlich kaum einen seltsameren Kommentar abgeben können.
»Ich denke mal, ich sollte lieber nicht alles sagen, was mir in den Sinn kommt«, murmelte ich in Eddies Richtung. Ich war es gewohnt, in gesellschaftlichen Situationen direkt zu sein, aber mir kam der Gedanke, dass die richtige Antwort wahrscheinlich gelautet hätte: »Ja, absolut!«. Ich hatte nur wenige Freunde in meinem Alter und war aus der Übung.
Eddie grinste mich an. »Ich weiß nicht, Schwesterherz. So wie du bist, wirkst du ziemlich unterhaltsam. Mach so weiter.«
Nach dem Mittagessen kehrte unsere Gruppe auf den mittleren Campus zurück, wo wir uns voneinander trennten, uns mit unseren wissenschaftlichen Betreuern trafen und unsere Stundenpläne zusammenstellten. Als ich mich mit meiner Betreuerin hinsetzte, einer munteren jungen Frau namens Molly, entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass die Alchemisten schulische Unterlagen von einer fiktiven Schule in South Dakota mitgeschickt hatten. Sie stimmten ziemlich gut mit dem überein, was ich in meinem Privatunterricht gelernt hatte.
»Ihre Zensuren und Abschlüsse reichen für unsere fortgeschrittensten Mathematik- und Englischkurse«, stellte Molly fest. »Wenn Sie in diesen Kursen Ihre Sache gut machen, können Sie einen Abschluss fürs College bekommen.« Ein Jammer nur, dass ich unmöglich aufs College gehen kann, dachte ich mit einem Seufzer. Sie blätterte einige Seiten in meiner Akte um. »Allerdings … ich sehe hier gar keine Unterlagen über Fremdsprachen. Es ist eine der Anforderungen von Amberwood, dass jeder mindestens eine Sprache lernt.«
Hoppla. Dann hatten die Alchemisten in diesem Punkt meiner gefälschten Unterlagen Murks gemacht. Tatsächlich hatte ich eine Reihe von Sprachen gelernt. Mein Vater hatte dafür gesorgt, dass ich von klein auf Unterricht bekam, da ein Alchemist niemals wusste, wo er oder sie
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