Bloodman
sorgsam unter Verschluss hielt. Zusammen mit allem, was er jemals für den Mann empfunden hatte, auf den er jetzt hinabstarrte.
Jake trank einen Schluck Kaffee, den er sich aus dem Automaten geholt hatte. Er war kalt geworden, und Jake fragte sich, wie lange er schon dastand, verschollen in seinem Kopf mit den Toten und dem Was-wäre-wenn .
Er drehte sich um und ging auf den Gang hinaus. Das alte Zimmer seines Vaters lag drei Türen weiter, und er betrat es, um zu sehen, ob sie die Wand schon überstrichen hatten. Aus irgendeinem Grund musste er sich davon überzeugen, dass dieses blutige Porträt aus der Geschichte gelöscht war.
Die Besuchszeit war schon längst vorbei, aber da Jake mitten in einer Mordermittlung steckte, hatte man ihm gewisse Privilegien zugestanden. Es war die flaue Zeit nach dem Abendessen, wenn die meisten Patienten ihre Medikamente eingenommen hatten, die Nachtschicht aber noch nicht begonnen hatte, und die Etage wirkte verlassen. Keine alten Damen, die in ihren Morgenmänteln herumschlurften und ihre Tropfständer wie eine Art Wünschelrute vor sich herschoben, die sie in Richtung des Raucherzimmers dirigierte. Das einzige Geräusch auÃer dem seiner Stiefel auf dem schlachtschiffgrauen Linoleumboden waren die entfernten Klänge klassischer Musik und ein dünnes, näselndes Schnarchen. In einem Seitenkorridor, der zum Lastenaufzug führte, brummte eine Eismaschine. Ansonsten war es still.
Jake stieà die Tür auf. Er fürchtete, dass man das Zimmer bereits mit einem neuen Patienten belegt hatte, aber der Lichtkeil vom Gang fiel auf ein leeres Bett. Er hatte den Geruch nach frischer Farbe und Desinfektionsmittel erwartet, aber gleich nach dem Eintreten empfing ihn metallischer Blutgeruch. Er schloss die Tür hinter sich, schob den Riegel vor und betätigte den Lichtschalter.
Das blutige Porträt klebte immer noch schwarz und festgebacken an der Wand.
Jake fragte sich eine Sekunde lang ungläubig, warum es noch nicht überstrichen worden war. Wie gebannt starrte er das Gesicht ohne Züge an. Etwas hatte sich verändert â eine zweieinhalb Zentimeter dicke Linie Klebeband rahmte das Porträt ein. Er trat näher und entdeckte eine Beschriftung auf dem Band. Zwischen mit Kugelschreiber gemalten Pfeilen, die nach auÃen wiesen, stand: AUSSERHALB DER MARKIERUNG SCHNEIDEN .
Während Jake einen Schritt zurücktrat, erkannte er David Finchs Handschrift und begriff, dass der Mann das Gemälde verkaufen wollte. Er fragte sich, wie viel das gierige kleine Arschloch dem Krankenhaus bezahlt hatte.
Vor seinem geistigen Auge sah er Finch bereits, wie er sich im Scheinwerferlicht seiner Galerie in New York aufplusterte, während das letzte Werk des groÃen Jacob Coleridge von einem Kran in Position gebracht wurde. Zur Vermarktung würde er ein paar der abgeschnittenen Holzlatten noch grob über die Rigipsplatten hinausragen lassen wie freiliegende Knochensplitter. Es ist so elementar , würde er sagen. So urtümlich . Coleridges beste Arbeit überhaupt. Sein letztes Werk .
Der Preis?
Er würde mit niedergeschlagenem Blick traurig den Kopf schütteln, als wäre es ihm peinlich, über etwas so Unfeines wie Geld reden zu müssen.
Aber Sie müssen doch irgendeine Preisvorstellung haben!
Er würde verletzt dreinschauen, als hätte der potentielle Kunde ihm nicht richtig zugehört. Dann würde langsam ein grüblerischer Zug in seine Miene treten, als wäre es ihm bisher nie in den Sinn gekommen, sich von dem Stück zu trennen, und als müsse er erst darüber nachdenken. Sicher, er war Galeriebesitzer â aber doch auch ein Kunstliebhaber . Und manchen Werken konnte man einfach kein Preisetikett aufkleben. Das Wichtigste aber, würde er sagen, während er dem potentiellen Klienten verschwörerisch die Hand auf den Arm legte, das Wichtigste ist, dass Freundschaft keinen Preis hat. Und Jacob ist mein Freund â war mein Freund.
Vergessen Sie Damien Hirst, Jasper Johns und Willem de Kooning (die Hand ehrfurchtsvoll aufs Herz gepresst). Haben die jemals mit ihrem eigenen Herzblut gemalt? Ich glaube nicht. Sie waren bzw. sind groÃe Künstler. Aber sie waren bzw. sind nicht Jacob Coleridge. Coleridges Werk ist berühmt für seine Wahrhaftigkeit . Und was kann wahrhaftiger sein, als sich selbst für seine Kunst zu opfern? Für seine Kunst zu bluten .
Dann würde er sich
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